Die ewige Bibliothek
Veröffentlichungen der Fakultät auf dem Laufenden zu bleiben. Aber einige ihrer Schriften waren nicht ohne einen gewissen Reiz.«
»Ah, ich danke Ihnen«, sagte Michael. »Publizieren Sie selbst?«
Galen rührte in seinem Getränk, blickte zur Bühne hoch und sah dann wieder seinen Tischgenossen an. »Nein, nur noch ganz selten. Seit ich nicht mehr auftrete, habe ich auch das Schreiben fast sein gelassen. Meist beschränke ich mich auf Vorlesungen.«
»Sie sind früher aufgetreten?«
Galens Augen weiteten sich, als könne er nicht glauben, was er da gefragt wurde. Dann verdüsterten sie sich wieder und seine Augenlider sanken schwer herab, als er antwortete. »Ich bin oft aufgetreten. Das ist allerdings schon einige Jahre her.«
»Es tut mir Leid, dass mir das entgangen ist«, sagte Michael aufmunternd, dem die Veränderungen im Gesichtsausdruck seines Tischgefährten entgangen waren. »Wenn Sie vielleicht…«
Er hielt inne, als die Beleuchtung des Raumes flackerte, erst einmal, dann noch einmal. Der Vorstellung würde gleich anfangen.
Die Lampen im Club gingen langsam aus und ließen nur den matten Schein der Teelichter zurück, die auf einigen Tischen standen. Dann drang eine sanfte Stimme aus der Dunkelheit.
»Alles, was es auf der Welt gibt, ist Berührung und Deutung.«
Während der unsichtbare Sprecher dies sagte, wurde ein einzelner Scheinwerfer auf den geschlossenen Bühnenvorhang gerichtet. Durch den Schlitz erschienen zwei Hände, die Handflächen dem Publikum zugewandt.
Michael blickte zur Lichtquelle zurück und stellte erstaunt fest, dass es keine gab.
Die Stimme sprach weiter. »Eine Berührung ist jener Augenblick, in dem wir zu uns selbst geführt werden und die Welt zu uns. Eine Berührung festigt, bestätigt, überzeugt. Eine Berührung schafft die Grundlage, auf der wir unser Verständnis des uns umgebenden Universums aufbauen.«
Die Hände falteten sich, als würden sie sich waschen. Dann nahmen sie die Stellung des bekannten Kinderzaubertricks ein, bei dem ein Zeigefinger, der über beide Daumen gelegt wird, von denen einer eingeknickt ist und der andere sichtbar bleibt, einen der Daumen scheinbar von der Hand abtrennt.
Einige der Gäste, viele davon abgestumpfte Intellektuelle, ließen ein lautes Stöhnen vernehmen.
»Jede Wechselwirkung, jedes echte Verständnis findet im Augenblick der Berührung statt. Ohne Berührung kann nichts bewiesen werden. Deshalb ist Berührung von entscheidender Bedeutung.«
In diesem Augenblick vollführten die Hände den Daumentrick – mit beiden Daumen – und warfen sie geradewegs in das fassungslose Publikum.
Niemand schrie oder sprang auf, allerdings schnappten nicht wenige nach Luft und einige der Gäste bekreuzigten sich. Einer der Daumen war mit seinem runden, blutleeren Stumpf auf einen der unbesetzten Tische vor der Bühne gefallen. Der andere war vom selben Tisch abgeprallt und lehnte an der unteren Treppenstufe auf der rechten Bühnenseite. Die nunmehr daumenlosen Hände drehten sich langsam, um allen eine vollständige, ungehinderte Sicht zu ermöglichen und zu zeigen, dass es weder diskret versteckte Finger gab, noch die Daumen verdeckt waren. Sie befanden sich einfach nicht mehr an den Händen.
Ein Untersetzer Mann links von dem Tisch mit dem Daumen stand auf und wollte zum Ausdruck zu bringen, was jeder im Raum empfand: dass es ein kindischer und dilettantischer Trick für einen Illusionisten war, eine Vorstellung damit zu beginnen, ein paar falsche Plastikdaumen auf Gäste zu schleudern, die gutes Geld bezahlt hatten, um ihn zu sehen, obwohl sein Ankündigungsschild miserabel war und er weder über interessante Requisiten oder Tiere noch über eine Assistentin mit hübschen Brüsten verfügte, wie jeder andere Künstler in seiner Branche, der etwas auf sich hielt.
Zumindest hatte er das sagen wollen. Was er tatsächlich sagte, war unklar und klang ein wenig wie »Ürk« oder »Gürk«, und niemand sonst sagte etwas, denn alle hatten das selbe gesehen wie er – genau im selben Augenblick. Fairerweise muss man sagen, dass »Gürk« nicht die peinlichste aller Reaktionen war – nicht wenn sich der Himmel grün färbte oder Wasser sich in Karotten verwandelte oder ein Hund in eine Preiselbeertorte. Oder Daumen, von denen man angenommen hatte, sie bestünden aus Plastik, plötzlich zu geschäftigem Leben erwachten.
Die Zuschauer sahen sprachlos zu, wie der Daumen auf dem Tisch einen Moment lang zappelte, sich dann umdrehte und
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