Die ewige Bibliothek
etwa zwanzig Tische, die in Dreiergruppen über eine rechteckige Fläche verteilt standen. Am einen Ende des Raums befanden sich Bar und Küche, am anderen eine kleine, improvisierte Bühne, die von Vorhängen verhüllt wurde und aus zwei Treppen und einer Plattform bestand.
Links von der Bühne lehnte eine schöne, alte Staffelei, aufwändig geschnitzt mit geschwungenen Schnörkeleien und plastisch ausgeführten Putten, die eine aluminiumgerahmte schwarze Tafel trug, wie sie für Speisekarten in Kaffeehäusern benutzt wurden oder in Konferenzhallen, in denen Bankette für Freimaurer veranstaltet wurden. Darauf kündigten winzige weiße Buchstaben die Höhepunkte des Abendprogramms an, wenn auch mit einem fragwürdigen Maß an Glaubwürdigkeit: Der meisterhafte Zen-Illusionist OBSKURO vollbringt wundersame und erstaunliche Kunststücke – nur heute.
Auf den Tischen lag ein grober, grau-grüner Stoff und sie wurden von einem ziemlich kleinen, behäbigen Mann bedient, der bis auf seinen Bart ein identisches Gegenstück des Kartenabreißers war. Michael und Galen wählten einen Tisch auf der linken Seite, etwa drei Meter von der Bühne entfernt, und gaben dem Kellner ein Zeichen.
»Ja?«, sagte der barsch. »Was woll’n Sie?« Er sprach Deutsch, allerdings mit einer seltsamen Betonung, als habe er es von Cornflakes-Packungen gelernt.
»Ich hätte gern einen Wodka Orange«, erwiderte Galen.
»Und ich nehme einen… ähm, einen Gin Tonic«, sagte Michael.
Der gedrungene kleine Mann schüttelte heftig den Kopf – einer räudigen Katze nicht unähnlich, die sich schüttelt, nachdem sie in einen Fluss getaucht worden war. »Nee – hab kein Wodka und hab kein Gin.«
Galen stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus und verdrehte seine Augen gen Himmel, während Michael die Speisekarte genauer unter die Lupe nahm. Der Kellner fing an, ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Andere Gäste hatten sich bereits erwartungsvoll niedergelassen und hielten Ausschau nach der einzigen Bedienung.
Michael sah zu Galen auf. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich uns einfach einen Krug von irgendwas bestelle? Ich lade Sie ein.«
Galen zuckte unverbindlich die Schultern und Michael deutete auf die Speisekarte. Der kleine Mann kritzelte etwas auf seinen Bestellblock und eilte davon. Wenige Minuten später kehrte er mit einem Krug Wodka Cola und zwei Tuben Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack zurück. Galen warf einen Blick auf die Ausbeute und sah Michael fragend an.
»Schauen Sie mich nicht so an«, protestierte Michael. »Ich hatte Bier bestellt.«
»Sie verlangen nach Bier und er bringt uns Wodka Cola und Zahnpasta?«, fragte Galen verärgert, während er den Hals reckte und sich nach dem mürrischen Kellner umsah.
»Äh, die Zahnpasta ist für mich«, gab Michael zu. »Sie ist mir vor einigen Tagen ausgegangen und ich dachte, wenn ich schon mal hier bin… Trotzdem, Wodka Cola?«
Galen murmelte einen Fluch und schob ihm sein Glas hin.
»Ich höre schon seit Monaten von diesem ›Obskuro‹«, sagte Galen, »seit er im letzten Herbst an der Universität angefangen hat. Soweit ich weiß, sind seine Vorstellungen ziemlich ungewöhnlich, selbst für einen Illusionisten.«
»Mmm«, sagte Michael. »Und Sie sagen, er sei ein Student?«
»Nein«, antwortete Galen mit einer Spur Selbstgefälligkeit.
»Er gehört zum Lehrkörper. Sie haben vielleicht Anfang des Jahres von ihm gehört – das Wunderkind, das nur einen Namen hat?«
Michael blickte mit neu erwachtem Interesse zu der immer noch leeren Bühne hinüber. »Wollen Sie damit sagen, dass der Zauberer, den wir uns ansehen werden…«
»Illusionist.«
»Was auch immer – in Wirklichkeit jene neue Berühmtheit ist, der Kopf der Abteilung für Mathematik an der Universität?«
»Genau der.«
»Interessant. Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er uns einladen wollte? Ich meine, ich kann zwischen den drei Fachrichtungen nicht eben viele Zusammenhänge erkennen, nicht einmal irgendwelche gemeinsamen Interessen, wenn ich ehrlich bin.«
»Da haben sie Recht – obwohl ich in Ihrer Abhandlung über angelsächsische bardische Formen einige interessante Ideen entdeckt habe.«
Michael lächelte geschmeichelt und mehr als ein wenig überrascht. »Sie lesen meine Artikel?«
»Hin und wieder, wenn sie sich mit meinen eigenen Interessen überschneiden«, antwortete Galen. »Als Vizerektor gehört es zu meinen Pflichten, über alle wissenschaftlichen
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