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Die ewige Bibliothek

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Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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umdrehte und seinen Arm um Galen legte, den die Neugier überwältigt hatte – »dann wird seine erfolgreiche Nutzung ebenso des Sachverstands von Professor Gunnar-Galen bedürfen.«
    »Nutzung? Nutzung von was?«, fragte Galen gereizt und warf einen finsteren Blick auf das Pergament. »Was ist das, Langbein?«
    Mit zitternden Händen strich Michael über die graubraunen Runen, die in das brüchige Blatt geritzt waren. Dann wandte er sich mit weit aufgerissenen Augen seinem Gefährten zu – entweder war er am Rande der Verzückung oder des Wahnsinns.
    »Es ist etwas undeutlich und in einem Dialekt, den ich nicht so gut kenne, weil bisher noch nie jemand ein Schriftstück gelesen hat, das zur Gänze darin geschrieben war.«
    »Was ist es?«
    »Isländisch… Alt-Isländisch«, sagte Michael. »Nach dem Wenigen, was ich übersetzen kann, ist das hier die Ur-Edda – eine Mythologie der isländischen, altnordischen und germanischen Volksstämme, die…« Er hielt inne, konnte sich fast nicht mehr bewegen und starrte einfach mit offenem Mund auf das Pergament.
    »Ich habe mich gefragt, wann es Ihnen auffallen würde«, sagte Obskuro.
    »Sturluson?«, fragte Galen. »Es ist nicht wirklich mein Fachgebiet, aber das Schriftstück ist wahrscheinlich eine Fälschung.«
    Michael würgte und sprach dann wie in Trance weiter. »Es ist echt. Das hier ist die Ur-Edda – sie ist älter, als alle anderen bekannten Schriften von Sturluson, und dieses Exemplar ist die vollständigste Sammlung seines Werks, die existiert.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Galen. »Sie haben selbst gesagt, dass es schwer zu übersetzen ist, und Sie halten es erst ein paar Sekunden in Händen.«
    »Weil«, sagte Michael mit zitternden Händen, während er nach Galens Arm griff und auf eine dunkle Schriftzeile am Rand des Textes deutete, »es mit Anmerkungen versehen ist, und die Anmerkungen im Deutsch des Neunzehnten Jahrhunderts verfasst sind.«
    »Anmerkungen von wem?«
    »Von allen Gelehrten sollten gerade Sie diese Handschrift erkennen, Galen«, sagte Obskuro mit einem Anflug von Sarkasmus. »Schauen Sie genau hin.«
    Mit geschürzten Lippen beugte sich Galen näher heran und fluchte. Er hielt eine Seite hoch, dann noch eine und noch eine, und blätterte den Stoß schließlich mit kaum beherrschter Aufregung durch.
    »Der andere Groschen fällt«, sagte Obskuro, »und ich nehme an, wir sind uns einig.«
    Galen und Michael, die beide die Seiten umklammert hielten, blickten gemeinsam den ironisch grinsenden jungen Illusionisten an, der seine Arme in der inzwischen vertrauten Geste ausbreitete. »Soweit ich es beurteilen kann, ist dies die Ur-Edda – ein völlig unbekanntes Werk von Snorri Sturluson. Darüber hinaus scheint dieses Schriftstück zeitweilig Franz Liszt gehört zu haben, der an einer Übersetzung arbeitete, bevor er es einem jüngeren Bekannten überließ, den er mit Teuerster Freund anredete. Der Freund begann auf diesen Seiten mit einer Nacherzählung der darin enthaltenen Geschichten, die er schließlich nach anderem, weniger vollständigem Quellenmaterial zu Ende führte.«
    »Wagner«, hauchte Galen, »das war Wagner.«
    »Richtig«, sagte der Illusionist, »und wenn unsere anderen Vermutungen zutreffen – was ich glaube – dann ist das, was Sie in Ihren Händen halten, nicht nur ein historisches Schriftstück von unschätzbarem Wert, sondern auch die erste und authentischste Fassung eines der größten Opernzyklen, die je geschrieben wurden.«
    »Mein Gott«, sagte Michael. »Aber Obskuro, wie sind Sie…?«
    Der junge Mann winkte ab und wies auf die missmutigen Clubbesitzer, die an der Bar warteten. »Wir haben bereits geschlossen, meine Herren. Ich schlage vor, wir ziehen uns an einen Ort zurück, der weniger öffentlich und sehr viel gemütlicher ist. Außerdem«, schloss er mit einem boshaften Funkeln in seinen Augen, »war das Obskuros letzte Show – ich habe ihn in den Ruhestand geschickt. Nennen Sie mich von jetzt an Juda.«

 
KAPITEL VIER
Dreimal erzählte Geschichten
     
    Michaels Wohnung lag am nächsten und war zudem der unauffälligste Ort, um das ungewöhnliche Schriftstück eingehender zu untersuchen. Eines der Gartenrestaurants oder Kaffeehäuser auf dem Weg kam nicht in Frage. Der Bekanntheitsgrad zweier Professoren der Universität, ebenso wie der des kürzlich in den Ruhestand getretenen Illusionisten, hätte für zahlreiche potentielle Unterbrechungen gesorgt – außerdem zogen alle drei es vor,

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