Die ewige Bibliothek
machte jedoch keine Anstalten, näher zu rücken. Galen rutschte auf die Kante seines Stuhls vor und Michael schob seinen Sessel vom Fensterplatz an den Tisch, auf dem der Stoß Pergament lag.
Im helleren Licht der Wohnung konnten sie das Alter und die Empfindlichkeit des Schriftstücks noch deutlicher sehen. Woher es auch immer letztendlich stammen mochte, es handelte sich um ein Objekt, das genauster Studien bedurfte und mit der größten Sorgfalt behandelt werden musste. Galen strich das Leinen darunter glatt und ließ einen Finger leicht über die Kante des Deckblatts gleiten. Michael gab aus reiner Höflichkeit vor, zumindest an seinem Kaffee zu nippen, bevor er ihn beiseite stellte und sich Galen anschloss.
»Um die Herkunft dieses Buches zu verstehen, müssen Sie erst einmal wissen, wo und wie es in meinen Besitz gelangte«, sagte Juda, »und ich muss Sie warnen, dass die Geschichte an manchen Stellen äußerst unglaublich scheint.«
»Ich denke, nach der Vorstellung heute Abend bin ich geneigt, fast alles zu glauben«, sagte Michael aufrichtig.
»In der Tat«, sagte Galen, »obwohl mich die offenbare Umwandlung von Holz in Fleisch immer noch etwas beunruhigt.«
»Was beunruhigt Sie daran? Die Umwandlung oder die Tatsache, dass sie offenbar war?«, fragte Juda.
»Illusion oder nicht«, gab Galen zurück, »diese Frau hat etwas erlebt, das sie zutiefst beeinflusst hat und das sicherlich über die Grenzen einfacher Unterhaltung hinausging.«
»Und Ihr Urteilsvermögen«, sagte Juda, »ist vom Gebrauch zu vieler Adjektive beeinflusst und geschwächt. Manchmal sind die Dinge, was sie sind. Gab es eine Umwandlung?«
Galen hielt inne, dann sagte er: »Ja.«
»War es Unterhaltung?«
»Für wen?«
»Schon besser«, sagte Juda. »Für die meisten Gäste war es Unterhaltung – für die Frau selbst eine praktische Erfahrung.«
»Und für uns?«
»Was denken Sie?«
»Warum Holz?«, unterbrach Michael ihn. »Ich meine, Sie sagten, dass ein Holzbein besser sei. Warum nicht Plastik?«
»Plastik ist tote Materie – Holz ist lebendig«, sagte Juda. »Die Bewegungsenergie, die lebenden Dingen innewohnt, ist leichter umzuwandeln als jene anderer Materialien.«
»Wo haben Sie das gelernt?«, fragte Galen.
»Ein guter Illusionist verrät niemals seine Geheimnisse.«
»Außerdem gibt es da noch diesen Mann, dem Sie das Brecheisen durch den Kopf getrieben haben«, sagte Galen.
»Das war mehr Wissenschaft als Magie. Wenn man es richtig macht, gibt es allerdings eine verdammt gute Illusion ab.«
»Dann war es also echt? Glauben Sie, er wird es überleben?«
»Hatten Sie den Eindruck, dass er irgendwie unglücklich aussah?«
»Nein«, sagte Galen verwirrt. »Er sah… dankbar aus.«
»Und da sage noch einer, dass ich mein Publikum nicht zufrieden gestellt hätte.«
»Aber«, warf Michael ein, der den anderen immer noch einige Schritte hinterher war. »Sie sind im Ruhestand, was hindert Sie also daran, die Karten auf den Tisch zu legen?«
Juda legte seinen Kopf in den Nacken und stieß ein volltönendes Lachen aus. »Na gut, na gut – Sie haben mich erwischt. Zufälligerweise ist die Antwort auf diese Frage in der Beantwortung ihrer ersten Frage enthalten.«
»Die riesigen Bögen von Geschichte, Mythologie und Religion sind untrennbar miteinander verschlungen«, sagte Juda und ignorierte ihre Abschweifungen, um seine Geschichte weiter zu erzählen. »Zu jedem beliebigen Zeitpunkt verursachen mindestens zwei von ihnen gewaltige Risse in den Fundamenten der Welt. Diese Fundamente können sich verschieben und das Angesicht der Welt verändern. Innerhalb von wenigen Augenblicken verändern sich Kontinente – Kulturen verschwinden, und in diesen Augenblicken versucht die Menschheit, mit Hilfe eines dieser großartigen Bögen die neue Welt und ihren Platz darin zu erklären. Aber sogar all diese Bereiche zusammen genommen können die Struktur des Lebens nicht hinreichend beschreiben. Es ist mehr von der Welt verloren gegangen, als wir auch nur ahnen. Aber stellen Sie sich vor, es gäbe einen Ort, eine geheime Lagerstätte für dieses verlorene Wissen, wo Generationen von Gelehrten die unausgelöschten Geschichten der Welt zusammengetragen und bewahrt haben?«
»Geschichte«, korrigierte Galen.
Juda sah ihn scharf an. »Verzeihen Sie – habe ich den Plural verwendet?«
»Wo ist dieser Ort?«, fragte Michael und musterte die Ur-Edda. »Der Vatikan hat eine außergewöhnliche, versiegelte Bibliothek,
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