Die ewige Bibliothek
das Paket lieber nicht noch einmal an einem ungeschützten Ort zu öffnen.
Michael wollte das Edda-Manuskript unbedingt in der Hand halten, doch als Juda es nicht nahm, sondern mit einer einladenden Handbewegung darauf wies, griff Galen mit dem Eifer eines Fanatikers zu und drückte es sich an die Brust, als sei es ein kranker Säugling oder eine zerbrechliche Ming-Vase.
Sie legten den kurzen, hastigen Spaziergang zur Wohnung schweigend zurück. Michael formulierte in Gedanken einige tausend Fragen, die er dem jungen Mann stellen wollte, der ihr Treffen arrangiert hatte, und er vermutete, dass Galen dasselbe tat. Juda hingegen schien zufrieden damit, die Sehenswürdigkeiten zu betrachten, an denen sie vorbeischlenderten. Der Abend war nicht zu kühl, und es war noch nicht so spät, dass die Gehwege menschenleer gewesen wären. Juda grinste andeutungsweise, wissend und dennoch nicht selbstgefällig, und seine Augen huschten hin und her, mit einer versteckten und gleichzeitig unersättlichen Intelligenz. Michael fragte sich, warum ein so offensichtlich begabter Mensch als Bühnenkünstler arbeitete, bevor ihm mit einem Mal wieder einfiel, dass der schlanke, junge Mann Mathematiker und universitätsweit der jüngste Institutsvorstand der letzten vier Jahrhunderte war. Nahm man noch sein unbestreitbares Charisma hinzu, so war es kein Wunder, dass seine Ankunft in Wien eine obskure, historische Entdeckung überschattet hatte. Immerhin aber konnte Michael eine gewisse Genugtuung aus dem Wissen ziehen, dass die Bibliothek für Physik, an der Juda angestellt war, ihre Gründung seinen früheren Entdeckungen und dem daraus resultierenden Verkauf des Jefferson-Schriftstücks an die Amerikaner verdankte.
Michael sah erst zu Galen hinüber, der das Paket an seine Brust presste, und dann zu Juda, der gleichzeitig nach allem und nichts Ausschau zu halten schien, und kam zu dem Schluss, dass dies schon jetzt einer der interessantesten Abende des Jahres gewesen war. Bestenfalls war ihm das Mittel zur Rettung des Instituts für Ältere Literatur und Geschichte in den Schoß gefallen – ein Resultat, an das er kaum zu denken wagte –, und schlimmstenfalls hatte er seinen Vorrat an Zahnpasta aufgefüllt. Kein schlechtes Ergebnis für einen im Großen und Ganzen erbärmlichen Tag.
»Woher haben Sie dieses Buch?«
Juda hatte es sich auf einem breiten, karierten Sofa bequem gemacht, neben den Doppeltüren, die in Michaels Arbeitszimmer führten. Michael, ganz der aufmerksame Gastgeber, verschwand unterdessen in der Speisekammer, um für das Trio Kaffee zu holen und eine Flasche Absinth, für den Fall, dass die Umstände ein stärkeres Getränk erforderten. Galen wiederum blieb stehen und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Mantel auszuziehen. Er hielt das in Leinen gewickelte Paket auf Armlänge von sich und stellte die Frage erneut, mit gespannter, rauer Stimme: »Woher haben Sie dieses Buch?«
Juda lächelte, ließ seinen Kopf aufs Polster sinken und musterte Galen. »Ich habe mir schon gedacht, dass das Ihre erste Frage sein würde, auch wenn ich sie eher von Professor Langbein erwartet hätte. Wenn Sie sich seiner Gastfreundschaft anvertrauen wollen, werde ich versuchen, alle Ihre Fragen zu beantworten, so gut ich kann.«
Galen blieb noch einen Augenblick stehen – so wurde seine offensichtliche innere Anspannung durch Bewegungsenergie ausgeglichen, als würde das Hinsetzen die Bewegungen aufhalten, zu denen er sich nicht entschließen konnte. Schließlich entspannte er sich, seine Schultern sackten nach unten und er zog sich einen Lehnstuhl von dem Schreibtisch neben der Eingangstür heran. Er legte das Paket auf den Schreibtisch, als wolle er es eigentlich gar nicht aus der Hand legen, während er andererseits ein wenig Angst hatte, es erneut zu öffnen.
Michael erschien in der Tür zur Küche; auf den Händen balancierte er unsicher eine dampfende Kanne und drei Tassen mit Untertassen. »Also, äh«, sagte er nervös und goss jedem von ihnen ordentlich Kaffee ein. »Woher haben Sie das Buch?«
Juda kicherte und sogar Galen hob eine Augenbraue und verbiss sich ein Grinsen.
»Was ist?«, fragte Michael.
»Schon gut«, sagte Juda. »Lassen Sie uns noch einmal einen Blick darauf werfen, und dann erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß.«
Galen wickelte das Manuskript aus, während Michael einen niedrigen Tisch freiräumte und ihn in die Mitte des Zimmers zog. Juda richtete sich auf dem Sofa auf,
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