Die ewige Bibliothek
habe ich noch nie gehört.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Galen und rieb sich müde die Schläfen. »Und ich glaube nicht, dass mich eine Geschichte jemals so vollkommen ausgelaugt hat.«
»Ich verstehe«, sagte Juda, »obwohl ich doch meine, dass die fortgeschrittene Stunde und die Menge des konsumierten Alkohols etwas mit dem Zustand zu tun haben, in dem Sie sich befinden.«
»Scheiße«, rief Michael aus und sah zur Kaminuhr hinauf. »Es ist schon nach drei Uhr morgens – und wir haben uns noch nicht einmal das Manuskript gründlich angesehen.«
Galen reagierte darauf mit einem ebenso verärgerten Fluch. »Ich habe am Vormittag zwei Besprechungen und bin auf keine von beiden vorbereitet, aber ich würde dieses… Buch ungern zurücklassen, ohne dass wir uns auf unsere weitere Vorgehensweise geeinigt haben. Was schlagen Sie vor?«, fragte er und wandte sich von den Blättern ab und Juda zu, der weder von der späten Stunde ermüdet noch besorgt zu sein schien.
»Meine Herren«, sagte er und stand zum ersten Mal seit sie die Wohnung betreten hatten vom Sofa auf, »mir war vollkommen klar, dass die Prozesse der Authentisierung und Übersetzung nicht unmittelbar erfolgen würden. Als ich Sie zu meiner Show einlud, wollte ich Sie auf die Geschichte vorbereiten, die ich Ihnen zu erzählen hatte und vielleicht auf zukünftige Ereignisse…« Was das für Ereignisse sein mochten, dachte Michael, wäre eine gute Frage für einen Tag, an dem seine Augen nicht jeden Moment aus ihren Höhlen zu fallen drohten.
»… und ich bin durchaus bereit, die Ur-Edda demjenigen von Ihnen zu überlassen, der sich damit am besten befassen kann. Schließlich sind wir doch Kollegen, oder?«
Juda konnte sehen, wie Galen zitterte – er wollte das Schriftstück an sich nehmen und in sich aufsaugen. Er konnte sein Verlangen danach kaum beherrschen, und das war offensichtlicher, als ihm bewusst war. Galen kämpfte mit seiner Gier und seiner akademischen und logischen Einsicht, dass Professor Langbein alles in allem besser qualifiziert war. Galen stand kurz davor, etwas zu sagen, obwohl er sich noch immer nicht entschieden hatte, als Michael seinem inneren Schachmatt ein Ende setzte.
»Warum bewahren wir sie nicht einfach in der gesicherten Abteilung der Hauptbibliothek auf?«, schlug er vor. »Dort haben wir alle Zugang, wann immer wir die Zeit finden.«
»Mmm«, meinte Galen. »Mir gefällt die Idee des gleichberechtigten Zugriffs, aber sagen Sie, gab es nicht erst vor kurzem Bedenken hinsichtlich der Sicherheit gerade dieser Abteilung?«
»Das war nicht mein Fehler«, beharrte Michael müde. »Ich weiß nicht einmal, was mit dem Schlüssel passiert ist, ganz zu schweigen von der Kassette. Und niemand ist bereit, einen Professor, der nicht fest angestellt ist, einen Blick in die Sicherheitsberichte werfen zu lassen. Sie gehören doch zur Verwaltung«, sagte er und nickte Galen zu, »können Sie da nicht mal nachhaken?«
»Natürlich«, antwortete Galen. »Ich musste diese Frage stellen. Ich werde mich morgen darum kümmern.«
»Wunderbar«, sagte Juda. »Wollen wir die Seiten dann einpacken? Ich bin sicher, dass wir uns bald wieder sehen werden, um sie noch einmal zu untersuchen, und morgen müssen wir alle früh aufstehen.«
»Ja«, sagte Michael, richtete sich auf und langte über den Tisch. »Ich lege nur noch das Deckblatt wieder darauf, und…«
Die Zeit blieb stehen.
Die nächsten Sekunden dehnten sich ins Unendliche, während Juda, Galen und Michael allesamt Zeugen von Ereignissen wurden, über die sie keine Kontrolle hatten. Es begann damit, dass Michaels hochgerollter Ärmel kaum merklich das halbvolle Absinthglas streifte, welches daraufhin umkippte. Die grüne Flüssigkeit schwappte heraus und auf die einzelne Manuskriptseite, die links von dem Stapel lag.
Mit einem Aufschrei brachte Galen die Zeit wieder in ihren normalen Fluss. »Verdammt, Langbein! Was haben Sie getan? Was haben Sie getan?«
»O Gott, o mein Gott«, jammerte Michael mit aschfahlem Gesicht, »schnell, Juda – ziehen Sie das Blatt weg, wir müssen…«
Juda gebot ihnen mit erhobener Hand Einhalt. Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck starrte er auf den absinthbefleckten Abschnitt des Schriftstücks.
Michael lief in die Küche, kam mit mehreren Handtüchern zurück ins Zimmer geeilt und wischte das verschüttete Getränk auf.
Juda hatte in der Zwischenzeit das zur Hälfte mit Absinth getränkte Blatt in die Hand genommen und hielt es neben
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