Die ewige Bibliothek
Melvins Fähigkeiten und Gages plötzliche Begabung für Anasazi auf einer Gemeinsamkeit beruhten: Ihnen war ein Loch in den Kopf gebohrt worden. Der nächste Schritt war also, es selbst auszuprobieren. Zum Glück«, schloss er grinsend, »gibt es sehr wenig, was ein Student nicht für Geld machen würde.«
»Und der Mann in Obskuros Show?«, fragte Galen. »Was ist mit dem?«
»Oh, Bertram? Der arbeitet für mich«, sagte Juda und grinste breit über ihren Gesichtsausdruck. »Was überrascht Sie daran? Jeder gute Magier, der seinen Hut wert ist, hat einen Komplizen unter den Zuschauern, für den Fall, dass er an ein schwieriges Publikum gerät. Das gehört zur Show.«
Als sie sich dem Dom näherten, ließ sich Michael zurückfallen und stieß Galen an. »O Mann«, flüsterte Michael, »ich hoffe wirklich, dass er seine Angestellten krankenversichert.«
»Die Zahnversicherung deckt das ab«, sagte Juda über die Schulter hinweg. »Kommt nur darauf an, wie tief man bohrt.«
Der Südturm des Stephansdoms, Wiens berühmtestem Wahrzeichen, ist hundertvierzig Meter hoch und beherrscht die Skyline der Stadt. Der noch kühnere Nordturm wurde nie vollendet, sondern mit einer Kuppel überdacht, nachdem ein Bauarbeiter zu Tode gestürzt war. Ein romantisches Gerücht besagt, dass der Arbeiter, ein junger Mann namens Hans, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Es war vereinbart worden, dass Hans die Hand der Tochter seines Meisters gewinnen würde, wenn er den Turm innerhalb eines Jahres allein fertig stellte. Als die Aufgabe zu schwierig wurde und er an der Weiterführung verzweifelte, bot ihm ein Fremder an, ihm zu helfen, unter der Bedingung, dass er für den Rest des Jahres keinen heiligen Namen mehr aussprechen würde. Hans stimmte zu, und die Dinge gingen gut voran, bis die Dame, die Anlass zu der Vereinbarung gegeben hatte, die Baustelle besuchte. Hans nannte ihren Namen – Maria – der, als Name der Mutter Gottes, seinen Pakt verletzte. Das Gerüst stürzte ein und Hans wurde getötet. Der Turm blieb wie er war: unvollendet.
Das weniger bekannte Gerücht beinhaltete außerdem noch den Aufenthaltsort von Hans’ Meister an jenem fraglichen Tag, sowie einer Zange und dreier Nägel aus dem Gerüst. Es wurde jedoch nie bestätigt.
Während Michael, Juda und Galen den Dom umrundeten, fühlte sich Michael allmählich, als stehe er auf diesem Gerüst, und schlimmer noch, als habe er selbst die Nägel herausgezogen. Er schüttelte das Gefühl ab und wandte sich wieder Galen und Juda zu, die sich angeregt unterhielten.
»Was wollen wir hier?«, fragte Galen gerade. »Sollten wir nicht zur Polizei gehen?«
»Ich dachte, wir könnten wieder in Langbeins Wohnung zurückkehren, oder vielleicht zur Universität. Und was die Polizei angeht – überlegen Sie doch mal«, sagte Juda. »Abgesehen davon, dass sie eine Menge Lärm gemacht und sich auf illegale Weise Zutritt zu Professor Langbeins Wohnung verschafft haben, haben sie eigentlich nichts verbrochen.«
»Aber würde nicht die Tatsache, dass ihnen allen Löcher in die Köpfe gebohrt wurden, zumindest einen gewissen Verdacht erregen?«
»Warum? Die haben letzte Woche versucht, sie von der Universität auszuschließen, und das wurde eiligst abgelehnt – und davon abgesehen, bin ich derjenige, der mit der ganzen Sache angefangen hat. Wir werden also kaum Sympathie ernten.«
Wie um diese Äußerung zu betonen, ertönte ein lautes Heulen – und es kam von der Straße hinter ihnen.
Ein weiterer Nachtbus fuhr mit quietschenden Reifen an den Bordstein. Sechzig Studenten ließen sich von seinem Dach fallen oder strömten aus seinen Türen heraus. Als sie ihre flüchtige Beute entdeckten, stimmten sie erneut ihr Geheul an und machten sich mit großer Geschwindigkeit daran, die Straße zu überqueren.
»Mist«, sagte Michael. »Ich habe vergessen, dass alle Studenten Monatskarten besitzen.«
Er sprang die Stufen hinunter und zog Juda und Galen mit sich, die beide kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen schienen. »Kommen Sie – es geht wieder los!«
Eine Sache spricht für den Hang der Wiener, ihre öffentlichen Plätze mit Statuen zu pflastern – sie bieten Flüchtenden zahlreiche Gelegenheiten, sich dahinter zu verstecken und gemeinsam zu verschnaufen.
»Wussten Sie eigentlich, dass Mozart hier begraben liegt?«, flüsterte Michael hinter einer Statue des Komponisten hervor.
»Seien Sie still!«, zischte Galen hinter einer anderen Statue.
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