Die ewige Bibliothek
im Mittelalter überaus beliebt gewesen sein muss. Insgesamt sind achtundzwanzig mehr oder weniger vollständige Manuskripte in einunddreißig Fragmenten erhalten geblieben, von denen fünfzehn aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert stammen. Von diesen sind nur neun so gut erhalten, dass sie trotz einiger geringfügiger Lücken als vollständig gelten können, und wiederum nur drei von diesen werden als wirklich historisch wertvoll angesehen. Was die Datierung des Gedichts angeht, so glaubt man aufgrund der Präzision der Reime, dass es in seiner gegenwärtigen Form nicht weiter zurückreichen kann als bis ungefähr 1190. Das mag auf die erhalten gebliebenen Fassungen zutreffen, aber nicht auf die Originalquelle, die nie gefunden wurde. Es sind viele umfangreiche Versuche unternommen worden, die Identität des Autors unseres Gedichts zu ermitteln, aber ich glaube, diese Frage haben wir ebenfalls gelöst.«
»Bragi?«, fragte Galen.
»Ja – in der zweiten Strophenserie.«
Galen stieß einen leisen Pfiff aus. Das Ganze wurde mit jeder Minute Erfolg versprechender – im wahrsten Sinne des Wortes.
»Wie begründen Sie das?«, fragte Juda.
»Die Geschichte von Siegfried«, fuhr Michael mit seinen Erklärungen fort, »die unserem Gedicht zugrunde liegt, ist um mehrere Jahrhunderte älter als das Nibelungenlied. Jedes Volk und jede Generation hat sie auf ihre eigene Weise erzählt und neue, erfundene Elemente hinzugefügt. Diese weite geographische Verbreitung der Legende und die Vielfalt von Formen, in der sie überliefert ist, erschwerte die Suche nach ihrem Ursprung. Die nordische Fassung ist in vieler Hinsicht älter und einfacher in der Form als die germanische. Dennoch glaubt man, dass Norwegen möglicherweise nicht die Heimat der Saga gewesen ist, die stattdessen in Deutschland entlang den Ufern des Rheins bekannt wurde. Die skandinavische Fassung der Siegfried-Legende ist uns in fünf verschiedenen Formen überliefert. Aber nur drei davon waren als Nacherzählung vom Christentum unverdorben und unmittelbar genug, um überhaupt von Nutzen zu sein.
Die erste davon ist die Ältere Edda, die teils heroischen und teils mythologischen Charakter besitzt. Sie ist in alliterierenden Strophen geschrieben, die von Prosa unterbrochen werden, und hat die Form von Dialogen, unter denen wir eine Reihe von Liedern finden, die von Siegfrieds Abenteuern handeln.
Die zweite Quelle der Siegfried-Geschichte ist die so genannte Wölsungensaga, eine Prosa-Nacherzählung der Edda-Lieder. Sie wird auf den Beginn des dreizehnten Jahrhunderts datiert; aber der eigentliche Bericht wurde wahrscheinlich ein Jahrhundert früher niedergeschrieben. Sie ist wichtig, weil sie einen Teil des Codex Regius enthält, der verloren gegangen ist und uns somit den Inhalt der fehlenden Lieder überliefert.
Die dritte Quelle ist Sturluson – er war sowohl mit der Lieder-Edda, als auch mit der Wölsungensaga vertraut, und hält sich eng an beide Berichte. Er erzählt die Siegfried-Saga nur kurz nach, wird aber als Originalquelle angesehen, weil er von zuvor unbekannten Liedern Gebrauch macht, die vom Ursprung des Schatzes berichten.
Die Geschichte, wie sie in den älteren alt-nordischen Versionen erzählt wird, ist in vieler Hinsicht authentischer als das Nibelungenlied. Sie gibt die Geschichte des Schatzes der Nibelungen wieder und führt ihn auf einen Riesen zurück, der ihn von dem Gott Loki als Entschädigung für die Tötung seines Sohnes erhielt, der in der Gestalt einer Otter von Loki erschlagen worden war. Loki hatte das Lösegeld von einem Zwerg namens Alberich, der es seinerseits den Flussgöttern des Rheins gestohlen hatte. Alberich belegt den Schatz und seine Besitzer mit einem schrecklichen Fluch, und dieser Fluch geht von Loki auf den Riesen über, der im Schlaf von seinen beiden überlebenden Söhnen ermordet wird. Einer von ihnen betrügt den anderen um die begehrte Beute und trägt sie in die Heide, wo er sie in Gestalt eines Drachen bewacht.
Dieser Schatz und der ihn begleitende Fluch gehen als Nächstes in die Hände eines Menschen namens Siegfried über, eines Nachkommens des Geschlechts der Wölsungen, die ihr Geschlecht bis auf Odin zurückverfolgen. Doch wo das Nibelungenlied mit dem Tod der Nibelungen endet, führt der Ring den Hauptkonflikt weiter, den Wagner aus anderen Quellen hinzugefügt hat – den Konflikt zwischen Hagen und Siegfried. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Fassung der Geschichte, obwohl sie
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