Die ewige Bibliothek
Flüssen, die durch die Welten der Götter, der Menschen und der Toten fließen, und vom Weltenbaum Yggdrasil. Er spricht von der Entstehung der Welt aus Fleisch, Blut und Knochen des Riesen Ymir, und…« Er hielt inne, ein seltsamer Ausdruck verzerrte seine Gesichtszüge.
»Was ist los«, fragte Juda und richtete sich auf. »Was sehen Sie, Michael?«
Der Historiker blieb noch einen Augenblick in seiner Trance und schüttelte sie dann ab. »Tut mir Leid – ich hatte soeben eine Eingebung, aber sie ist verschwunden. Was habe ich gerade gesagt?«
»Die didaktischen Gedichte?«, soufflierte Galen.
»Richtig, danke. Das Wafthrudnirlied ist eine ähnlich wertvolle mythologische Quelle. Darin besucht der verkleidete Odin den alten Riesen Wäfthrudnir, um seine Weisheit auf die Probe zu stellen, und sie schließen eine Wissenswette ab, bei der beide ihren Kopf verpfänden. Der Riese beginnt und Odin antwortet fehlerlos. Als Odin an der Reihe ist, Fragen zu stellen, beantwortet der Riese siebzehn davon richtig, und erklärt dabei die Ursprünge von – nun, die Ursprünge von allem. Odins achtzehnte Frage besiegt ihn schließlich – Odin enthüllt seine Identität, indem er fragt, was er in Balders Ohr geflüstert habe, bevor dieser auf den Scheiterhaufen wanderte. Und da niemand außer Odin darauf eine Antwort geben kann, ist der Kopf des Riesen verwirkt. An dieser Stelle taucht Thor kurz auf und erzählt seinerseits, wie er die Riesen besiegt hat. Er behauptet, sie hätten die ganze Welt überrannt, wenn er nicht gewesen wäre – so heißt es zumindest in der traditionellen Erzählung.«
»Und in der Ur-Edda?«, fragte Galen.
»Der Autor oder die Autoren waren anscheinend immer noch überzeugte Heiden, aber auch ein wenig skeptisch gegenüber ihren Göttern. Hier verliert Odin den Wettstreit und kehrt als körperloser Kopf nach Walhalla zurück, und Thor wird von den Riesen gefressen. Wieder fehlt die christliche Metaphorik – Odin erhält seinen Körper nicht zurück, was ihm andere, von der Religion beeinflusste Mythen zugestanden hätten, und Thor – nun, Thor bleibt aufgefressen.«
Michael schob die Stapel hin und her und vergrub sich in anderen Notizen, von denen ihm die Hälfte auf den Boden fiel. In Gedanken ergänzte Galen seine Schätzung hinsichtlich Michaels Finanzierung um das Gehalt einer Sekretärin.
»Im Codex Regius«, sagte Michael, nachdem er den Anschein einer Ordnung hergestellt hatte, »den wir als das wesentliche Manuskript von Saemunds Edda ansehen – bis jetzt eines der bedeutendsten Manuskripte der Edda überhaupt –, wird der Titel Hávamál für eine Sammlung von hundertsechzig Strophen oder separaten dichterischen Abschnitten verwendet. Mit der Verwendung dieses Titels weist der Autor darauf hin, dass er all diese Strophen für die Worte Odins hält. Ob er damit nun richtig oder falsch lag: Es steht jedenfalls fest, dass die Sammlung etwa sechs Gedichte oder Fragmente über verschiedene Themen fragwürdigen Ursprungs enthält. In der Ur-Edda stellt sich diese Frage jedoch nicht, denn dort haben wir ganze zwölf Gedichte und fast zweihundert Strophen. Wenn wir das Alter der mythischen Lieder und ihren Ursprungsort kennen würden, wären wir eher in der Lage, sie als Quellen der Religionsgeschichte anzusehen – und diese hier kommen dem sehr nahe. Ich kann sie auf das siebte Jahrhundert datieren, wenn nicht sogar früher.«
»Das nimmt dem Codex Regius glatt den Wind aus den Segeln«, merkte Juda an.
»Und es widerlegt eine beliebte Theorie, nach der viele der Edda-Lieder norwegischen Ursprungs sind und im zwölften Jahrhundert niedergeschrieben wurden«, sagte Michael. »Ob Sturluson solche Lieder in schriftlicher Form besaß oder nicht – fest steht, dass er sie für sehr alt hielt, was darauf hindeutet, dass sogar die jüngsten von ihnen einige Generationen vor seiner Zeit verfasst wurden. Wir wissen jetzt, dass es so war, und wir wissen auch, von wem.«
»Ist es nötig zu fragen?«, sagte Galen.
»Ich perfektioniere nur meine Vortragstechnik«, sagte Michael und zwinkerte Juda zu. »Der Autor der Ur-Edda war Bragi Boddason.«
»Bragi Boddason, oder Bragi der Ältere, wie er genannt wurde, war der Erste, dem Verse in skaldischer Form zugeschrieben wurden. Bragis bedeutendstes überliefertes Gedicht ist die Ragnarsdrapa, von der in der Snorra-Edda zwanzig Strophen und Halbstrophen erhalten sind. In der Ur-Edda gibt es dreihundert.«
»Mein Gott«, sagte Galen.
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