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Die ewige Bibliothek

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Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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authentischer ist als die germanische Tradition, nicht die einfachste und archaischste Form der Sage darstellt. Was allerdings ihre ursprüngliche Form war, ist nie bekannt geworden.«
    »Bis jetzt«, sagte Juda, der voraussah, worauf Michael hinauswollte.
    »Bis jetzt«, bestätigte Michael. »In der Ur-Edda schuf Bragi eine Grundlage für den Siegfriedmythos und versuchte, die Geschichte in einfachsten Worten wiederzugeben – die in späteren Fassungen trotz allem verdreht wurden. Die einen sahen in der Geschichte die Personifizierung von Naturkräften – andere suchten nach einem rein menschlichen Ursprung der Sage, und zwar der Streit zwischen Verwandten um den Besitz eines Schatzes. Bragi zufolge ist der Kern des Siegfried-Mythos die alte Geschichte vom Verwandtenmord.«
    »Faszinierend«, sagte Galen. »Hagen und Siegfried als Kain und Abel.«
    »Oder Hagen und Attila«, sagte Michael, »denn Hagens Feind ist immer mit Gunthers Schwester Kriemhild verheiratet. Es ist zwecklos, das Datum mit einem Ereignis aus der wirklichen Geschichte in Verbindung bringen zu wollen – derartige Morde kamen häufig vor und könnten sich überall ereignet haben. Der Kern der Legende ist jedoch traditionellerweise die Feindschaft zwischen Verwandten gewesen, die in zwei Formen auftritt: die eine, in der der Schwiegersohn seinen Schwiegervater tötet, und die andere, in der Hagen seinen Schwager tötet und seinerseits von ihm getötet wird. Aber Bragi macht darauf aufmerksam, dass sowohl die altnordische, als auch die germanische Fassung die Verbindung zwischen den beiden Geschichten unerwähnt lassen – das gemeinsame Motiv des Schatzes. Das ist der Kern von Bragis Wiedergabe der Legende und, wie ich glaube, derjenige, den Wagner in seinen Ring integriert hat.«
    »Das ist es«, rief Galen aus und erhob sich. »Das ist das Herzstück von Wagners Werk – in allen anderen Sagen war der Schatz eher nebensächlich, doch Wagner wollte ihn wieder in den Vordergrund rücken, so wie es ursprünglich gedacht war.«
    »Wie ist das geschehen, Michael? Wie hat Wagner das aufgebaut?«, fragte Juda.
    »Er wollte es als einen Jahresmythos darstellen – einen Mythos der Jahreszyklen«, sagte Michael. »Der Drache ist das Symbol des Winters und die Zwerge das der Dunkelheit, während Siegfried den hellen Sommer repräsentiert und sein Schwert die Sonnenstrahlen. Das jugendliche Jahr wird in den dunklen Tagen des Winters erwachsen. Wenn seine Zeit gekommen ist, schreitet es triumphierend voran und zerstört die Dunkelheit und die Kälte des Winters. Und irgendwie – es ist unklar, auf welche Weise – benutzt Siegfried den Schatz, um das zu erreichen.«
    »Sehr idealisiert«, sagte Galen und setzte sich wieder ans Fenster. »Und was ist mit Hagen?«
    »Seltsamerweise entlastet ihn Bragis Fassung in jeder Hinsicht – der letztendliche Tod Siegfrieds wurde aus der Notwendigkeit heraus idealisiert, seinen Tod als eine schreckliche Tat erscheinen zu lassen, die nach Rache verlangt. Doch der Mord selbst löst sich von der alt-nordischen Fassung und bestätigt, dass Hagen derjenige ist, der ihn tötet; nicht im Bett, während er schläft, sondern wie in der uns bekannten Fassung, in der Hagen Kriemhild auf verräterische Weise dazu bringt, die verletzliche Stelle an Siegfrieds Körper zu kennzeichnen, mit der Begründung, ihn beschützen zu wollen – und dann bringt er den armen Schweinehund um die Ecke.«
    »Ich will Sie nicht kritisieren, Langbein«, sagte Galen, »aber wieso entlastet ihn das?«
    »Es entlastet ihn, weil Hagen die einzige Figur ist, die sämtliche Wesensmerkmale aus den frühesten Fassungen des Mythos beibehält«, erklärte Michael. »Er ist der wahre Held der zweiten Hälfte des Nibelungenlieds, und in seiner Fassung des Rings versuchte Wagner, diesen Aspekt zu bewahren. Keine andere Figur ist so wenig von christlichen Einflüssen verdorben wie die seine – er ist in jeder Hinsicht immer noch der gleiche alte, riesenhafte Teutone, wie er es bei Sturluson, Bragi und allen anderen Dichtern von Anfang an war. Und das wirklich Sensationelle ist, dass das Palimpsest sogar eine starke mythologische Grundlage dafür liefert, Hagen zur wichtigsten Figur im gesamten Zyklus zu machen.«
    »Wie das?«, fragte Galen besorgt. Revolutionäre Entdeckungen waren schön und gut – bis zu einem gewissen Punkt. Wenn sich die Geschichten zu sehr von den traditionellen Sagen unterschieden, könnte es sich als äußerst schwierig erweisen,

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