Die ewige Bibliothek
ursprünglich doch gar nicht zu diesem Buch – er bezog sich auf Sturlusons Edda und wurde fälschlicherweise auf die andere übertragen.«
»Ja – Saemunds Edda war eigentlich nicht wirklich eddisch«, stimmte Michael zu und klopfte auf das Manuskript auf dem Tisch, »und deswegen ist dieser Text auch so merkwürdig – er mischt beide Formen.«
»Nicht zwingend«, sagte Galen. »Es könnte sich auch um ein weiteres Beispiel dafür handeln, dass Stoffe lange nach den tatsächlichen Ereignissen durcheinander gebracht wurden. Warum ist die Form überhaupt so wichtig?«
»Weil«, antwortete Michael und versuchte sich zu beherrschen, »die Form der einzige Anhaltspunkt ist, den wir haben, wenn wir versuchen Zeit, Ort und Autor zu bestimmen – und diese Dinge müssen gesichert sein. Sonst gibt es keinen Grund, das Manuskript in irgendeiner Weise für historischer zu halten als Ossians Lieder. Darf ich fortfahren?«
»Bitte«, sagte Galen und zeigte sich gebührend in die Schranken gewiesen.
»Vom Inhalt her unterscheidet man zwei Arten der eddischen Dichtung: mythische und heroische. Die eine beschreibt die Welt der Götter und die andere das Leben sagenumwobener Helden.«
»Wie Siegfried«, sagte Galen.
»Ja«, erwiderte Michael, »obwohl es Überschneidungen gibt. Die Verse über die Götter sind recht unterschiedlich – bei manchen handelt es sich um Abenteuergeschichten, die den Heldenliedern ähneln. Andere sind didaktisch und beschreiben die Geheimnisse des Universums, sowie den Ursprung und das Schicksal der Götter. Das berühmteste der Göttergedichte ist die Völuspá. Sie wird vorgeblich von einer Sybille gesprochen, einer Prophetin, die vor Anbeginn der Welt geboren wurde. Sie richtet sich gleichermaßen an Menschen und Götter, insbesondere jedoch an Odin, und erzählt vom Ur-Chaos, den daraus geborenen Riesen und vom Anfang der Menschenwelt. Sie beschreibt das Zeitalter der jugendlichen, unschuldigen Götter, die Prüfungen, die sie bestehen und schließlich den Verfall und drohenden Untergang im Ragnarök.«
»Und was ist daran für uns wichtig?«, fragte Galen.
»Obwohl das Thema der Völuspá heidnisch ist, kann niemand leugnen, dass sie sehr stark von christlicher Symbolik beeinflusst scheint, besonders in der Beschreibung des Ragnarök. Das hat Historiker zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass sie Anfang des 11. Jahrhunderts verfasst wurde, als sich die Menschen von der alten Religion ab und einer neuen zuwandten.«
»Und Sie sind anderer Meinung?«
»Inzwischen ja«, sagte Michael. »Auch hier liegt eine Version der Völuspá vor, aber sie ist bruchstückhaft und hinsichtlich der Rolle der Götter bei der ganzen Geschichte weniger respektvoll als andere Fassungen.«
»Und das stärkt Ihren Glauben an ihre Authentizität?«, fragte Galen überrascht.
»Nicht an ihre Authentizität – an ihr Alter. Die Völuspá verfügt normalerweise über eine logische Geschlossenheit, die vielen Gedichten der Edda abgeht, und muss daher einer Einzelperson zugeschrieben werden, die nicht unbedingt die allgemein verbreitete Meinung zum Ausdruck brachte. Der vorliegenden Fassung fehlt diese Geschlossenheit und daher liegt es nahe, dass sie aus mehreren Quellen zusammengesetzt wurde – was sie zu einem möglichen Vorgänger der anderen macht.«
»Und woher wollen Sie wissen, dass dies nicht nur eine bruchstückhafte Nacherzählung der bekannten Fassungen ist?«
»Weil sämtliche christlichen Einflüsse fehlen«, sagte Michael aufgeregt. »Wäre sie später geschrieben worden, wären sie noch immer enthalten, aber das sind sie nicht.«
»Beeindruckend«, sagte Juda.
»In der Tat«, sagte Galen, und entspannte sich zum ersten Mal. Er hätte es niemals bezweifeln sollen – Michael war besser, als er gedacht hatte. Wenn der Senat das nächste Mal über die Finanzierung des Instituts für Ältere Literatur und Geschichte beriet, vermutete Galen, würde das Ergebnis allen Erwartungen zuwiderlaufen. »Bitte«, sagte er und schenkte sich Champagner nach, »fahren Sie fort.«
»Danke«, sagte Michael. »Nun, zwei der didaktischen Gedichte, das Grimnirlied und das Wafthrudnirlied, sind besonders ergiebige mythologische Quellen – beide haben eine Rahmenhandlung, und Odin taucht auf, allerdings in Verkleidung. In zwei Passagen des Grimnirliedes wird außerdem die Walhalla beschrieben – der einzige ausführliche derartige Bericht in einer frühen Dichtung. In der Rahmenhandlung spricht Odin von
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