Die ewige Bibliothek
die Annahme der Edda – und des Rings – durchzusetzen.
»Von den drei Texten ließ sich das Palimpsest am leichtesten übersetzen, auch wenn der Dialekt älter war als alles, was ich je gesehen habe. Es wurde mit einer äußerst schwachen Tinte geschrieben, die dann entfernt wurde, bevor man die Bögen zum Drucken verwendete. Aber nachdem ich erst einmal das Prinzip durchschaut hatte, war die Übersetzung kein Problem mehr.«
»Was meinen Sie mit ›Prinzip‹?«, fragte Juda.
»Es ist eine Abschrift der Ur-Edda«, sagte Michael schlicht, »fast Wort für Wort – mit einer Ausnahme, die im Laufe des Texts immer wieder auftaucht und die gesamte Geschichte auf eine völlig andere Ebene hebt. Alberich ist nicht einfach nur ein Zwerg – er ist Odins Vater. Der gierige, egoistische, gefühlskalte Ahne des Nibelungenmythos ist der älteste König der Götter.«
Galen schoss wie eine Rakete aus seinem Stuhl und verschüttete, was von seinem Getränk übrig gewesen war. »Mein Gott… Dann ist Hagen…«
»Ja«, sagte Michael. »Hagen könnte sehr gut selbst ein Gott gewesen sein, vielleicht sogar Odins Bruder. Dieses Schriftstück, dieses Palimpsest verändert alles, was wir wissen.«
Sie standen schweigend da, betrachteten die verschütteten Getränke, das Manuskript und die Notizen, und niemand wusste etwas zu sagen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Galen schließlich.
Michael blähte seine Wangen auf. »Ich weiß es nicht«, gab er zu.
»Ich schon«, sagte Juda und stand auf, um beiden auf die Schulter zu klopfen. »Wir fahren nach Jugoslawien.«
KAPITEL NEUN
Umkehrung
einer Weltanschauung
Die Woche, bevor die drei Gelehrten sich auf die von Juda vorgeschlagene mysteriöse Reise begeben konnten, verlief ereignisreich, besonders für Galen. Das neue Semester begann und seine Gedanken waren ständig mit der Frage beschäftigt, wer Leiter der Universität werden würde. Dann griff die Hand der Vorsehung ein und fegte sämtliche Schachfiguren von Galens Brett – alle, bis auf eine.
Dem gegenwärtigen und hoch geachteten Rektor Andreas Räder wurde eine Stelle bei einer privaten Stiftung angeboten, und er nahm an. Seine letzte offizielle Handlung an der Universität Wien bestand darin, die Berufung von Mikaal Gunnar-Galen in seine bisherige Position zu befürworten. Zwei Tage später war Galen Rektor. Und während die Schrift an seiner Bürotür noch nicht trocken und die Tinte auf seinem Briefkopf noch frisch war, entwarf er bereits ein Angebot an die Leitung der Wagner-Festspiele, das beinahe fünf Prozent des Universitätsetats zukünftigen Inszenierungen des Rings versprach. Er unterschrieb mit ›Mikaal Gunnar-Galen, Rektor der Universität Wien‹ und übergab das Schreiben persönlich dem Kurier.
Während Galens persönliches Drama seinen Höhepunkt erreichte, war Michael damit beschäftigt, die Übersetzungen der Edda durchzugehen und zu etwas zusammenzustellen, das wissenschaftlich und vorzeigbar war. Galen hatte ihm zu verstehen gegeben, dies sei von immenser Bedeutung. Und da Galen nicht nur sein derzeitiger Gönner war, sondern im Begriff stand, sein Hauptarbeitgeber zu werden, wollte Michael ihn nur ungern enttäuschen. Michael hoffte, die eddischen Schriftstücke irgendwann in den nächsten Wochen der akademischen Welt präsentieren zu können. Doch Galen wollte offenbar, dass sie so schnell wie möglich zur Verfügung standen. Der Grund war nicht schwer zu erraten – schon allein die Büste von Wagner ließ deutlich werden, was Galens Herz höher schlagen ließ. Michael vermutete, dass die Bekanntgabe des Edda-Fundes um den achtzehnten August herum erfolgen werde, am Vorabend der Wagnerfestspiele in Bayreuth.
Wenn das zutraf, würde Galen ihn vielleicht auf Universitätskosten zum Festival schicken und ihn an der Bekanntgabe teilnehmen lassen – es wäre nett, nicht nur als Teil des Fußvolks dorthin zu fahren, sondern als jemand, auf den sich alle Blicke richteten.
Am folgenden Sonntag fuhren Galen, Juda und Michael mit dem Auto zum Flughafen, wo sie einen Austrian Airlines-Flug nach Jugoslawien nahmen. In Belgrad mieteten sie sich einen Wagen und fuhren zu einer Wiese auf einem verlassenen Hügel am Ufer der Donau, direkt vor der Stadt Novi Sad.
In Wahrheit hätte Juda Galen und Michael nach den großen persönlichen Siegen der letzten Wochen ins Zentrum von Beirut schleppen können, und sie wären bereitwillig und fröhlich mit ihm gegangen.
Sie spazierten
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