Die ewige Bibliothek
»Sind Sie sicher? Ist sie wirklich so vollständig?«
»Ich kann nicht versprechen, dass sie vollständig ist – aber dass sie bei weitem besser ist als jedes andere bekannte Manuskript, darauf können Sie Ihren Arsch verwetten. In dem traditionellen Gedicht beschreibt Bragi die Bilder, die auf ein Schild gemalt sind, von dem es heißt, er habe es von Ragnar Lobrok bekommen. Er beschreibt Szenen aus Legenden und Mythen, unter anderem Gefjons Pflug und Thors Kampf mit der Weltenschlange, und so weiter und so fort. In diesem Text gehen Bragis Gedichte viel weiter zurück, bis zu seiner Romanze mit der woluspischen Sybille.«
»Aus der Älteren Edda?«, fragte Juda skeptisch.
»Ja!«, erwiderte Michael aufgeregt. »Sehen Sie denn nicht, dass Bragi das Bindeglied darstellt? Er ist derjenige, der Mythos und Geschichte beider Eddas in jeder Hinsicht miteinander verknüpft – die erste Beschreibung war die beste. Dies ist die Ur-Edda, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Michael hielt inne, damit sich seine Worte setzen konnten. Alle drei wussten, dass dies der Punkt war, auf den es ankam – der Nagel, der alles weitere halten musste.
Juda wirkte merkwürdig unbeteiligt, als sei er nicht vollkommen überrascht. Aber Galen hatte den Gesichtsausdruck eines äußerst hungrigen Mannes angenommen, der plötzlich eine Scheibe feinsten Fleisches vor sich sah.
»Mehrere andere Quellen«, fuhr Michael fort, »erwähnen einen Gott der Dichtkunst namens Bragi – offenbar jener skaldische Dichter, der nach seinem Tod zur Gottheit erhoben wurde. Wenn diese Werke in irgendeinem Maße bekannt wurden, bevor sie in der Versenkung verschwanden, dann ist das kein Wunder – er wäre die Hauptquelle von Jahrhunderten religiösen Glaubens.«
»Wahrscheinlich ist es so gewesen«, sagte Galen. »Die Priester, die die alten Mythologien korrumpierten, hätten sicherlich jeden Band auseinander genommen, der so vollständig ist wie dieser hier. Uns waren bisher nur die Bruchstücke bekannt, die überliefert worden sind.«
»Das ist auch meine Meinung«, sagte Michael.
»Dann haben wir hier noch ein zweites Rätsel«, warf Juda ein. »Wenn der größte Gelehrte historischer Literatur Monate gebraucht hat, dieses Manuskript zu entziffern…« – Michael strahlte hemmungslos – »… wie ist es dann möglich, dass ein Komponist genug davon verstand, um ihm den Namen ›Ur-Edda‹ zu geben?«
Michaels Lächeln verschwand. »Wissen Sie, das konnte ich mir auch nicht ganz erklären«, gab er zu. »Liszt hatte das Manuskript als Erster in Händen, das wissen wir. Aber es lässt sich weder sagen, wie lange er es besaß, bevor er es an Wagner weitergab, noch wie lange Wagner darüber verfügte. Ich kann Ihnen versichern, dass sie es gründlich gelesen haben müssen, denn Teile der Fassung des Ringzyklus’, die hier niedergeschrieben ist, beziehen sich direkt auf Ereignisse, die ich nur in diesem Schriftstück gefunden habe.«
»Wenn sie so etwas besaßen, warum haben sie dann niemandem davon erzählt?«, fragte Galen. »Wie kann es sein, dass das überhaupt nirgends erwähnt wird?«
»Von allen Fragen, die ich von Ihnen erwartet habe«, sagte Juda schroff, »ist das bei weitem die dümmste.«
Galen wurde rot. »Also, hören Sie…Juda…«, setzte er an.
»Denken Sie nach – wem haben Sie davon erzählt?«
Galen verstummte. Die einzigen anderen Menschen, die etwas von der Existenz der Ur-Edda ahnten, waren Michaels Assistenten – und sogar ihnen wurde immer nur ein Teil der Übersetzung zur Bearbeitung vorgelegt, nie das ganze Manuskript.
»Sehen Sie?«, sagte Juda leise. »Wenn Wagner es besessen hat, dann hätte er es zu seinem Vorteil genutzt, und zwar nur zu seinem eigenen. Angesichts der durchgängig prekären finanziellen Situation der Bayreuther Festspiele kann ich ihm das wirklich nicht verdenken.«
»Was ist mit Wagners Übersetzung?«, fragte Galen und wechselte abrupt das Thema. »Wie ist sie geworden?«
»Ganz gut«, sagte Michael und griff nach einem weiteren Bündel Papier. »Wie erwartet bezieht sie sich sehr stark auf das Nibelungenlied, aber es gab Aspekte des Siegfried-Mythos, die nur der Ur-Edda entnommen sein können. Das Gedicht selbst geht auf älteste Geschichte zurück und vereint monumentale Bruchstücke halb vergessener Mythen und historische Persönlichkeiten zu einem Gedicht, das im Wesentlichen germanisch ist. Die große Anzahl von Manuskripten, die uns überliefert wurden, lassen vermuten, dass das Gedicht
Weitere Kostenlose Bücher