Die ewige Straße
zurückerinnern konnte, hob die Hand. »Wenn man bedenkt, daß wir die Chayla haben«, sagte er, »dann muß ich gestehen, daß ich überrascht bin, daß diese Diskussion überhaupt stattfindet.«
»Unsinn«, widersprach Telchik, ein gelegentlicher Besucher aus Argon. Die meisten der Anwesenden nickten zustimmend. Telchik war ein gutaussehender Jüngling mit braunen Haaren und blauen Augen. »Falls die Chayla das Werk der Götter ist, dann sprechen sie zumindest mit vielen Zungen zu uns.«
Wie es schien, waren von allen zu diesem Seminar erschienenen Schülern nur Kaymon und die Priesterin streng gläubig. Die anderen waren – der gegenwärtigen Mode der gebildeten Klasse entsprechend – Skeptiker, die entweder meinten, daß überhaupt keine Götter existierten, oder falls doch, sie keine Anstrengungen scheuten, um der menschlichen Rasse aus dem Weg zu gehen. (Die Ansicht, daß die Götter Überlebende aus dem Zeitalter der Straßenbauer sein könnten, hatte im Verlauf der letzten Dekade an Popularität verloren. An jenem Abend war jedenfalls keiner ihrer Anhänger erschienen.)
»Welche Charakteristik würde man denn von einem Kommunikationsversuch erwarten«, fragte Silas, »bevor man ihn für göttlichen Ursprungs erklärt?«
Kaymon schien verwirrt. »Die offizielle Sanktion des Tempels natürlich«, sagte er und warf einen hoffnungsvollen Blick zu Avila.
»Ich denke, in diesem Fall sind Sie der Tempel«, entgegnete die Priesterin.
»Ganz genau«, sagte Silas. »Falls Sie eine Nachricht erhalten, die von einem übernatürlichen Wesen zu stammen scheint – wie kämen Sie in diesem Fall zu einem Urteil?«
Kaymons Blicke gingen hilfesuchend nach rechts und links.
»Es gibt keine Möglichkeit, ein sicheres Urteil zu fällen«, sagte Telchik. »Es sei denn, man ist an Ort und Stelle, wenn es passiert. Und selbst dann …«
»Selbst dann«, unterbrach ihn Orvon, der Sohn eines Advokaten, »sehen wir vielleicht nur das, was wir zu sehen wünschen.«
»Dann dürfen wir also mit einiger Sicherheit darauf schließen, daß wir keine Möglichkeit besitzen herauszufinden, ob eine Botschaft von den Göttern kommt oder nicht«, schloß Telchik.
Einige der Diskussionsteilnehmer musterten Avila mit unbehaglichen Blicken, um zu sehen, wie sie den Angriff gegen die gesamte Priesterschaft aufnahm. Doch sie schwieg und beobachtete schweigend den weiteren Verlauf der Diskussion. Um ihre Mundwinkel spielte ein schwaches Lächeln.
»Und was sagen Sie zu all dem?« erkundigte sich Silas bei ihr.
»Sie mögen recht haben«, erwiderte Avila sachlich. »Auch wenn wir voraussetzen, daß Shanta existiert, können wir nicht sicher wissen, ob sie sich um die Geschicke der Menschen kümmert. Vielleicht leben wir in einer Welt, die ihre Existenz dem bloßen Zufall verdankt, und in der alles vergänglich ist. In der überhaupt nichts eine Rolle spielt.« Ihre Augen waren sehr dunkel geworden. »Ich sage nicht, daß ich das glaube, doch es ist unbestreitbar eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die jedoch außerhalb des Rahmens unserer Diskussion liegt. Ich würde sagen, daß die Götter uns Menschen als ziemlich schwierige Subjekte für eine wie auch immer geartete Form der Kommunikation betrachten.«
»Wie meinen Sie das?« erkundigte sich Orvon.
Avila legte die Handflächen gegeneinander. »Orvon, dürfte ich erfahren, wo du lebst?«
»Drei Meilen außerhalb der Stadt«, antwortete er. »Auf der Anhöhe über der Flußstraße.«
»Gut.« Sie wirkte erfreut. »Eine schöne Gegend, wirklich. Nehmen wir einmal an, heute abend, wenn du auf dem Heimweg bist, käme die Göttin höchstpersönlich hinter ein paar Bäumen hervor und wünscht dir einen schönen Tag. Wie würdest du reagieren?«
»Er würde vor Schreck die Sprache verlieren«, lachte Telchik.
»Vermutlich wäre ich ein wenig nervös, ja.«
»Und wenn die Göttin dir eine Botschaft übergibt, die du uns bringen sollst?«
»Dann würde ich ganz sicher gehorchen.«
Avila nickte und hob den Blick zu den anderen. »Und wie würden wir auf Orvons Behauptung reagieren?«
»Niemand würde ihm glauben«, sagte Selenico, der jüngste der Teilnehmer.
»Und was«, gab Silas zu bedenken, »wenn die Göttin statt dessen Avila einen schönen Tag wünscht? Würden wir ihr Glauben schenken?«
»Nein«, antwortete Orvon. »Ich denke nicht.«
»Warum nicht?« fragte Avila.
»Weil Sie nicht objektiv sind.«
»Nein«, widersprach Silas. »Nicht, weil sie nicht o b jektiv ist,
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