Die ewige Straße
Atmosphäre. (Die Karten zeigten politische Einflußgebiete während der verschiedenen Epochen in der Geschichte des Mississippi-Tals.) Auf einem Tisch stand ein Schachspiel mit kunstvoll verzierten Figuren. Das Spiel war in vollem Gang.
Breite teppichbedeckte Stufen führten in das Obergeschoß. Das Erdgeschoß umfaßte drei Räume. Chaka öffnete Schränke, inspizierte Schubladen und blickte in Kämmerchen. Hier war jedoch gründlich ausgeräumt worden. Kleidung, Schuhe, Toilettenartikel – alles war verschwunden. Kein leeres Glas und kein Stück Papier erinnerte daran, daß noch wenige Tage zuvor jemand hier gelebt hatte.
Sie wollte gerade nach oben gehen, als sie ein Quietschen vernahm. Die Scharniere der Tür, die zum Nordflügel führte. Chaka löschte ihre Kerze und schlüpfte hastig hinter einen Vorhang. Gerade rechtzeitig, denn die Tür öffnete sich, und jemand leuchtete mit einer Lampe ins Zimmer.
»Ist da wer?« Tokos Stimme.
Chakas Herz schlug so heftig, daß sie glaubte, es müsse im ganzen Haus zu hören sein.
Der alte Diener betrat das Zimmer und hob die Lampe. Chaka hielt den Atem an. Die Schatten wanderten und schwankten, während Toko durch das Zimmer ging und in sämtliche Ecken leuchtete.
Dann zog er sich offensichtlich befriedigt wieder zurück und schloß hinter sich die Tür. Seine Schritte verklangen. Chaka wartete zur Sicherheit noch ein paar Minuten. Als sie überzeugt war, daß Toko nicht mehr zurückkommen würde, schlich sie auf Zehenspitzen die Treppe hinauf.
Im Obergeschoß gab es zwei Zimmer: einen Schlafraum und einen Arbeitsraum. Das Bett im Schlafraum war gemacht. Auch hier fand sich kein Hinweis auf den früheren Bewohner. Der Arbeitsraum war langgestreckt, L-förmig und besaß große Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen und boten einen schönen Ausblick über den Fluß. Ein Schrank war mit Gläsern und Pokalen gefüllt. Die Fenster gingen auf eine Balustrade hinaus, auf der mehrere Stühle um einen runden Tisch standen. Man hätte glauben können, der frühere Bewohner sei ein geselliger Gastgeber gewesen.
Drinnen standen zwei Polsterstühle, ein ausladender Arbeitstisch mit mehreren Schubladen, ein Schreibtisch, zwei Schränke, ein paar leere Regale und eine Truhe.
Die Truhe war verschlossen.
Die Schubladen des Arbeitstisches waren leer, mit Ausnahme von zwei Blättern Papier. Im Schreibtisch fand Chaka ein paar Stifte, Tinte und ein leeres Notizbuch. In einem der Schränke entdeckte sie einen Pullover, den man in der Eile, mit der alles ausgeräumt worden war, wahrscheinlich übersehen hatte, und einen Revolver, der unverwechselbar aus der Werkstatt des gleichen Büchsenmachers stammte, der auch sämtliche Waffen von Chakas Familie angefertigt hatte. Merkwürdig, dachte sie, daß wir vergessen haben, wie man Bücher druckt. Aber wie man Schußwaffen macht, das wissen wir noch.
Sie kniete sich vor die Truhe.
Das Schloß war geeignet, neugierige Kinder fernzuhalten, aber kein Hindernis für Diebe. Chaka zog die schmalere ihrer beiden Klingen aus der Tasche und schob sie in das Schlüsselloch. Kurz darauf gab der Verriegelungsmechanismus nach, und sie hob den Deckel.
Darinnen lag eine Rolle in Ölhaut eingeschlagen. Sie maß vielleicht sechzehn Zoll in der Breite und einen Fuß im Durchmesser. Chaka nahm die Rolle aus der Truhe, stellte sie im Lichtschein der Lampe ab und öffnete die Schnüre, mit denen sie zusammengehalten war.
Die Rolle enthielt eine Skizze, die Chaka augenblicklich als eine Arbeit ihres Bruders erkannte. Sie war auf den 25. Juli datiert und damit jünger als alle anderen.
Eine Felswand erhob sich aus einem schäumenden Meer, und in dem wolkenverhangenen Himmel schien die Sichel des Mondes. Es war eine von Arins besseren Skizzen, wenngleich die Zeichnung selbst nichts Außergewöhnliches zeigte.
Absolut nichts Außergewöhnliches. Bis Chakas Blick auf den Titel fiel, der am üblichen Platz unter der Signatur ihres Bruders stand.
Haven.
Kapitel 4
In einem Zeitalter, in dem Wind und Muskelkraft die einzigen Antriebsquellen bildeten, war der Mississippi bestenfalls ein unzuverlässiger Partner. Fracht nach Norden mußte auf Flachbooten transportiert werden, die von Pferden gezogen wurden. Um die Sache komplizierter zu machen, war der Fluß unregelmäßig und unwegsam. Er hatte viele Bauten der Städte verschluckt, die sich in alter Zeit an seine Ufer geschmiegt hatten, und sie nur teilweise verdaut. Die Überreste bildeten
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