Die Ewigen Jagdgruende der Frau Weinwurm
genug Hochkultur für Herrn Weinwurm gab, dass sie selbst einmal hinfahren
würden? Die Schultasche drückte gegen ihr Kreuz, ihr fiel ein, dass sie ihr
Nutella-Brot nicht aufgegessen hatte, und ein enormes Hungergefühl benebelte
ihre Sinne schlagartig mit der Macht einer Naturgewalt. Verstohlen kramte sie
in ihren Rocktaschen, auf denen tanzende Bauernpaare eingestickt waren, nach
etwas Essbarem, da sie ihr Pausenbrot noch nicht opfern wollte. Die Bauernpaare
vergaßen die Polka und tanzten einen immer hektischeren Jitterbug, während
Ivonne wühlte und fingerte.
Nichts im Magen und
keinen Schimmer, neben wen sie sich gleich setzen sollte. Ivonne musste sich an
der Fensterbank festhalten.
Letztes Jahr hatte der
Lehrer sie einfach auf ihren Einzelplatz in der letzten Reihe geschoben, weil
sie neu war, aber dieses Mal konnte sie sich nicht hinter Lehrerautorität
verstecken, sondern musste lässig und selbstbewusst durch die Tischreihen
schreiten, zielsicher und schnell, als hätte sie Ahnung, wohin sie sich wenden,
wer mit ihr zusammen sitzen wollte. Bestand die Möglichkeit, das sie im letzten
Jahr etwas, ein klein wenig beliebter als Liliane geworden war? Ein paar
Pünktchen mehr bei den strengen Richtern herausgeschunden hatte? Misstrauisch
sah Ivonne zu der Mädchenfestung. Sicher hatten sie bereits über die
Sitzverteilung beratschlagt und wäre sie anstelle von Liliane die sechste im
Bunde gewesen, hätten sie sie bestimmt bereits eingeweiht, aber stattdessen war
etwas mit ihrem Bauch nicht in Ordnung, was sie nicht verstand. Ivonne sah sich
um.
Wo war Liliane
überhaupt? Sie drehte sich um, lehnte ermattet ihre Stirn gegen das kühle Glas
und sah aus dem Fenster auf den sonnendurchfluteten Hof. Ihr Magen knurrte erneut
heftig und aufbegehrend.
»Möchtest du?«
Liliane war wie ein Flaschengeist neben ihr aufgetaucht, schwang sich auf die
Fensterbank und hielt Ivonne eine Tüte Haribo Dschungelmix hin. Sie war genauso
bleich und wirkte ebenso verdrossen wie vor den Sommerferien, zudem trug sie
eine äußerst unvorteilhafte Brille mit achteckigen Gläsern, die ihr deutlich zu
groß war und immer wieder langsam auf die Nasenspitze zu rutschte. Ihre
tiefliegenden, hellblauen Augen wirkten durch die dicken Gläser noch kleiner, aber
sie blickten - was war hier los, eine Falle? – Ivonne durchaus
freundlich an. In Anbetracht ihres enormen Frühstückshungers zögerte Ivonne
nicht lange sondern griff herzhaft in die Tüte und schob sich eine Handvoll
bunter Gummiteilchen in den Mund.
»Danke.«, grumpfte
sie mit verklebten, farbenfroh schillernden Zähnen in Lilianes Richtung.
»Mmh.«, machte
Liliane und zerknüllte langsam und bedächtig die Plastiktüte.
»Warst du in den
Ferien auch nicht weg? Ich glaube, wir sind hier die Einzigen, die nicht
aussehen wie verschrumpelte Grillhähnchen.«
Liliane öffnete ihren
erstaunlich großen Mund und stieß ein hässliches Gelächter aus, und Ivonne,
voll Scham über dieses merkwürdige Geräusch, das eigentlich nicht wie Lachen
sondern wie Gewieher klang, wollte ihr eine Hand auf den Mund pressen, denn
merkte Liliane nicht, dass sie schon beobachtet wurden? Sicherlich machte sich
die Mädchenfestung schon parat, Pech zu sieden und in der nächsten Sekunde über
ihnen auszugießen
»Südfrankreich.«,
warf sie hastig ein und wedelte mit den Fingern, als habe sie sich verbrannt.
»Wirklich? Mit Strand
und Meer und allem? Das muss toll gewesen sein!«, meinte Liliane. »Wir sind
noch nie weg gewesen, so richtig, meine ich, außer bei meinem Vater in Berlin.«
Ivonne sah Liliane
an. Von Terese wusste sie, dass Lilianes Mutter in der winzigen, ortseigenen
Filiale von Quelle eingequetscht hinter einem alten Schreibtisch in der
Bestellannahme saß, der Stiefvater irgendeinen obskuren, niederen Bürojob in
einer Chemiefabrik oder so ähnlich hat, ich will auch nicht ausschließen, dass
er nicht einmal im Büro arbeitet sondern so etwas arbeitermäßiges macht . Kleine
Verhältnisse, Ivonne, halte dich mal lieber an deine anderen netten
Kameradinnen, fast alle mit studierten Vätern.
Am Ende des Ganges
tauchte Elfie Maier-Rehfisch, die neue Klassenlehrerin, auf und steuerte mit
beseeltem Lächeln auf die Jugendlichen zu, die sie, wie sie zwischen
stoßartigen Schluchzern und Ächzen ihrem Analytiker gestanden hatte,
unanständig, widerlich, grauenerregend und respektlos fand. Und da gab es noch
einen Punkt, den sie ihm nur flüsternd gestanden hatte: »Herr Doktor,
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