Die Ewigen Jagdgruende der Frau Weinwurm
nachdenken!
Bist du nicht diejenige, die sogar noch nach mir als Letzte im Sport in
irgendeine Gruppe gewählt wird? Lässt du dich nicht immer beim 800-Meter-Lauf
nach zehn Metern auf die Aschenbahn sacken und schreist, du hättest dir den
Knöchel verstaucht?«
»Das ist keine
spänerische Idee!«, fauchte Liliane. »Nächstes Jahr will ich dabei sein, beim
Berlin-Marathon, bei meinem Vati – der läuft nämlich mit, der war schon beim
allerersten Lauf mit dabei. Und wenn meine Brüder und ich ihn besuchen, gehen
wir morgens immer im Grunewald laufen, egal ob es hagelt oder noch stockfinster
ist oder wir so schrecklich müde sind, dass ich heulen will, und ich schaff es
nie so lang mitzuhalten, und dabei sind meine Brüder viel jünger und Vati
schaut dann immer so... genervt und... enttäuscht... und fragt, warum ich denn
nicht übe, ob ich ihm denn keine Freude machen will?«
Ein plötzlicher
Gedanke durchzuckte Liliane, und Ivonne sah so etwas wie Unbehagen oder Furcht
über ihr Gesicht huschen.
»Das musst du den
anderen aber nicht erzählen, oder?«
»Tsssss, ach was, wen
interessiert das schon? Mich übrigens auch nicht.«
Eleonore wurde
ungeduldig, und Ivonne erhob sich schwerfällig. Wie so oft bei unerwarteten
Bewegungen oder Ereignissen wurde ihre Müdigkeit mit einem Schlag unerträglich,
und sie schwankte, als sei sie gerade nach stundenlanger Mustangjagd vom Pferd
gesprungen und traute dem festen Boden unter ihren Füßen nicht recht. Sie
versuchte den dunklen Waldweg gegenüber der Lichtung zu fixieren, blinzelte
dann zu Liliane und ihr Blick wurde von strähnigem, hellbraunem Haar aufgesogen
- sie hätte sofort einschlafen können, mit weit aufgerissenen Augen wie eine
Eule, aber weniger wachsam.
»Du glotzt wie eine
Robbe, die aus dem Meer auftaucht und feststellt, dass sie an einem
Karibikstrand anstatt auf einer Eisscholle gelandet ist!«, grinste Liliane.
»Dir würde ein bisschen Lauftraining auch gut tun.«
Wortlos wandte Ivonne
sich um und schlappte – würdevoll, Schultern hoch! – in Richtung Wald.
Nach wenigen Schritten drehte sie sich um und stemmte die Hände in die Hüften.
Sie konnte es nicht auf sich beruhen lassen, sie musste es wissen.
»Woher weißt du das
mit der Mädchenclique? Ich meine, das mit dem Kiosk, dass man immer was für sie
holen muss und so, und dass sie nie Geld dabeihaben?«
»Na, rate mal! Wer
hat diesen Job wohl gehabt, bevor du in unsere Klasse gekommen bist?
Aber da mein Taschengeld immer nur für ein paar Tage Anfang des Monats reichte,
haben sie mich ziemlich schnell gefeuert. Und dann kamst du, glücklicherweise,
der nächste Sklave!«
Ghost Riders und Manga Girls
»Ah! Guten Morgen,
keine Sorgen! Erwache und lache! Rise and shine !«
Frau Weinwurm schwang
die Beine über die Bettkante, streckte sich und wackelte mit den steifen,
knubbeligen Zehen. Ein herzhaftes Gähnen ließ ihren Körper erzittern und sie
blinzelte nach dem Fenster, dessen Vorhänge sie nicht zugezogen hatte, um die
gigantischen, beruhigenden Sterne zu sehen, wenn sie nachts hochschreckte. All
diese Albträume, in all diesen vielen Jahren, immer gleich, die dämmrige Treppe
in den Keller, der Schrecken, der dort unten auf sie lauerte, der Traum,
getragen von der entsetzlichen, felsenfesten Gewissheit, dass Daddy ihr
nicht helfen konnte, dass Daddy verschwinden würde, sobald sie noch
einen Schritt nach unten tat, und sie alleine ließe für immer und immer!
Aber wieso schlich
sich nicht der andere, der neu durchlebte Schrecken in ihre Träume, wieso blieb
er hartnäckig draußen, waberte nur durch ihre wachen Gedanken ohne eine Spur zu
hinterlassen, dass kein Trapper und kein Marshall ihn gefunden hätten? Weil es
kein Schrecken war, nicht in Echt sondern nur in Spiel?
Frau Weinwurm
schüttelte den Kopf und strich sich mit beiden Händen das Haar hinter die
Ohren, spielte mit einer langen seidigen Strähne. Wann war das gewesen, als
irgendeine Person bemerkt hatte, wie schön ihr Haar geworden war? Es war eine
fremde Person gewesen, irgendeiner von den vielen weißgekleideten Erwachsenen,
den namen- und gesichtslosen Psychologen und Therapeuten, die sie nach dem
Keller-Ereignis gequält hatten. Vielleicht sogar die schmächtige Psychiaterin
in der Klinik, die ständig Pfefferminzbonbons lutschte, so dass Frau Weinwurm
noch heute von dem Geruch schlecht wurde, und in deren Obhut ihre Eltern sie
für Wochen - oder waren es Monate? - übergeben hatten, damit sie das
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