Die Ewigen Jagdgruende der Frau Weinwurm
Nahrungsaufnahme nur eine mechanische Handlung
war, die sie zerstreut ausführte.
Mit
geröteter, angespannter Haut, die prickelte wie ein Ameisennest, glitt Ivonne
nach dem Rennen in die heiße Badewanne, schüttete heimlich eingeschmuggeltes
Schaumbad ins Wasser und ließ den aktuellen Lauf Revue passieren, erinnerte
sich an Schwächen und plante neue Strecken in der Umgebung. Schnee fiel lautlos
auf das schräge Dachfenster, so dass sie immer weniger vom grauen Himmel
erkennen konnte. Sie tauchte unter die Schaumberge und hielt solange es ging
die Luft an. Dann fiel ihr Frau Rubin-Enderle ein und Ivonne prustete unter
Wasser Blasen an die Oberfläche, als sie an das verblüffte und nahezu entsetzte
Gesicht dachte, das über ihrem weißen Sweatshirt rot anlief und wie ein
Leuchtfeuer strahlte. Hatte Ivonne doch während eines Handballspiels die
wieselflinke Susanne in einem gewagten Verfolgungsspurt eingeholt, ihr den Ball
- mit einigen unfairen Ellbogeneinsätzen und einem dezenten Tritt in die Kniekehle
- abgejagt und sich mit ganzer Wucht auf die Verteidigungslinie vor dem Tor
geschmissen, dass die Mädchen kreischend auseinandersprangen! Das Tor hatte sie
zwar nicht getroffen, aber sie konnte den Erfolg verbuchen, beim nächsten Mal
bei der demütigenden Gruppenwahl bereits im mittleren Bereich und nicht als
Letzte gewählt worden zu sein. Hendrik und Magnum, die wie immer an der
Trennwand zwischen Jungen- und Mädchenbereich postiert standen, hatten sogar ob
Ivonnes brutalem Einsatz Beifall geklatscht und den Daumen nach oben gereckt,
was Ivonne zwar nicht bemerkte aber von Liliane registriert wurde, die am Rand
stand und lächelte. Versonnen nickte Liliane beifällig.
Auf dem Rebberg,
immer noch eine der schwierigsten Herausforderungen, angekommen, verlangsamten
sie erleichtert das Tempo und gingen gemächlichen Schrittes weiter. Der
vereiste Schnee knirschte unter den Gummisohlen der Turnschuhe und man hörte
sonst nichts außer ihrem schweren Atem und den üblichen fernen Kirchenglocken,
die immer irgendwo zu läuten schienen, egal wie spät es war. Es war früher
Nachmittag und es wurde bereits dunkel, überall von den Tälern blinkten Lichter
herauf. Ivonne dachte an den Tannenbaum, den sie gestern mit ihrem Vater
ausgesucht hatte und an ihr ungutes Gefühl auf der Heimfahrt, da sie nicht
wusste, wie viel Glühwein Herr Weinwurm mit dem Verkäufer getrunken und ob er
die Tanne ordentlich vertäut hatte. Herr Weinwurm sang laut und lallend Stille
Nacht, Heilige Nacht und so musste Ivonne wenigstens nicht mit ihm sprechen,
während sie sich an ihren Sicherheitsgurt klammerte und den Abstand zu den
anderen Autos im Blick behielt. Als sie zu Hause ankamen, schmatzte Herr
Weinwurm zufrieden und lehnte sich zurück, bevor er die Tür öffnete.
»Sachma, Ivonne, in
welscher Klasse bissu jetz eichentlisch?« Herr Weinwurm drückte Ivonnes Knie
und versuchte seinen Blick zu stabilisieren. »Achte, neunne?«
»Was macht Ihr an
Weihnachten?«, wollte Ivonne von Liliane wissen und trat einen schneebedeckten
Stein aus dem Weg.
»Gemütlich unter dem
Baum sitzen, zur Messe gehen, es sei denn, ich habe es geschafft, Hubbsi vorher
umzubringen. Dann müssen wir nicht in die Kirche.«
»Doch, müsst ihr
wohl!«, kicherte Ivonne vergnügt. »Zu seiner Beerdigung!«
»Das wäre allerdings
ein Anlass, zu dem selbst ich gerne in die Kirche gehen würde!«, seufzte
Liliane und sah verträumt nach den dunkel aufragenden Schwarzwaldbergen am
Horizont.
»Wird nicht möglich
sein. Du säßest nämlich hinter Schloss und Riegel!«
»Kaum. Vielleicht in
einer Erziehungsanstalt mit guter psychologischer Betreuung, dreimal am Tag
feine Mahlzeiten, zu denen man auch etwas zu trinken bekommt, aber ich würde es
ohnehin selbstverständlich so planen, dass mir nie jemand auf die Schliche
kommen könnte. Denk doch nur an das ganze Waffenarsenal in Hubbsis Zimmer! Wie
leicht kann da ein Unfall passieren ...?«
»Genau!«, begeisterte
sich Ivonne für dieses Gedankenspiel. »Die alliierten Playmobil-Soldaten rotten
sich zusammen, arbeiten eine ordentliche Strategie aus, überfallen ihn, wenn er
das nächste Mal in sein Zimmer kommt, fesseln, knebeln und martern ihn, bis ihm
jemand den Gnadenschuss gibt!«
»Oder er fällt durch
eine sinnreiche Konstruktion in seine eigenen Dolche!«
»Oder du gibst ihm
Stecknadelspitzen ins Essen! Da es bei euch nichts zu trinken gibt, müsste er
erst mal bis ins Bad kommen, um sie
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