Die Ewigen
neun. Eher Acht. Ich war noch in der Grundschule."
"Dein Bruder ist ... neun Jahre älter als du?"
Ich stutzte und fragte mich, woher Jackson das wissen konnte. Von der Schnüffelei in meinem Leben, lautete die logische Antwort, natürlich. "Ja", antwortete ich ihm.
"Also war er siebzehn oder achtzehn."
"Ja. Und das war auch sein IQ, freundlich ausgedrückt. Er war damals schon ziemlich ... na ja, nicht dick, aber stabil. Er hatte Kraft, war schon in der Ausbildung, Maurer. Ich bin immer quer durchs Zimmer geflogen. Ich hab irgendwann richtig Angst gehabt, hab immer aufgepasst, dass ich ihm nicht den Rücken zuwende, dass ich weiß, wo er gerade ist. Und er ... er hat immer aufgepasst, dass meine Eltern das nicht sahen, und dass er mich überraschend erwischt. Ich stehe in der Küche und helfe beim Abwasch, meine Mutter geht raus, um noch Geschirr aus dem Esszimmer zu holen - zack, lag ich wieder in der Ecke. Er hat immer gesagt, ich wäre hingefallen."
War Jacksons Gesicht eben bewegungslos gewesen, war es jetzt geradezu eingefroren: Seine Wangen waren weiß, die grünen Augen brannten dunkel in meinen. Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu beruhigen, denn er sah aus, als würde er gleich in tausend Teile zerspringen - platzen von einer Wut, die irgendwo tief in ihm kochte.
"Ich hab mir das so ungefähr ein Jahr gefallen lassen. Ein schlimmes Jahr. Irgendwann hat er mich so erwischt, dass ich mit dem Kopf gegen meinen Schreibtisch geknallt bin - das war vielleicht ein Veilchen! Meine ganze rechte Gesichtshälfte war blau und dick. Natürlich war ich wieder selber Schuld gewesen, war ich mal wieder über meine eigenen Füße gefallen - aber diesmal fanden die Lehrer das nicht plausibel, dafür war die Verletzung zu übel. Meine Klassenlehrerin hat bei meinen Eltern angerufen. Die haben mir danach zwar immer noch nicht wirklich geglaubt, aber sie haben meinem Bruder gesagt, er soll mich in Ruhe lassen." Ich verzog den Mund. "Er fand das nicht lustig und kam in mein Zimmer. Ich saß an diesem Schreibtisch und hab gebastelt - eine Laterne für einen Umzug. Pappe, buntes Papier, Papiermesser, Schere, Teelicht, Draht, Klebstoff. Er hat sich angeschlichen und mich hinten am Nacken gepackt, wie man das mit kleinen Katzen macht. Er hat mich hochgezogen, ich war da noch" - ich zögerte - "dünner als jetzt. Er hat mir ins Ohr gezischt, ich würde ihn nicht los, da bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen, er wäre mein Schatten ... so was halt. Klingt heute albern, aber mir hat das Angst gemacht." Jackson presste die Lippen zusammen, seine Augen verengten sich: Scheinbar klang das für ihn nicht albern, und ich fuhr schneller fort. "Ich hatte gerade dieses Papiermesser in der Hand. Du kennst die, oder? Eine dünne Klinge in einem Plastikgriff. Ich hab ... damit ausgeholt und nach dem Arm geschlagen, mit dem er mich gepackt hatte. Ich hab ihn schön erwischt: Ein richtig tiefer Schnitt im Unterarm. Nur oben, im Muskel, aber trotzdem - es hat geblutet wie die Sau und musste genäht werden." Ich erinnerte mich an die Szene, diese ferne Szene, die immer noch so gegenwärtig war, weil sie ein Jahr Angst beendet hatte, und weil sie den Tag markierte, an dem mir klar geworden war, dass dieses Haus kein Zuhause war. "Er hat geschrien wie am Spieß, und er hat mich nie wieder angerührt. Meine Eltern haben mir ein halbes Jahr Hausarrest gegeben und mich zur Schulpsychologin geschickt, weil ich so aggressiv wäre." Ich lachte, dachte an das kleine Zimmer mit Gummibäumen und mehr Büchern als in der Schulbibliothek. "Ich hatte Angst vor dieser Frau, weil sie die größte Brille hatte, die ich jemals gesehen hatte, aber sie war nett. Hat mir Fragen gestellt, hat zugehört, hat mir geglaubt. Sie hat meinen Eltern gesagt, ich hätte nur getan, was sie versäumt hätten - für eine Psychologin mal selten klare Worte." Ich lächelte. "Ich hab ihr die Laterne geschenkt, zum Umzug durfte ich ja wegen des Hausarrestes nicht."
Jacksons Wangen bekamen wieder etwas Farbe, kehrten zurück zu ihrer gesünderen Blässe. "Ihr habt keinen Kontakt mehr, oder? Du und dein Bruder?"
"Nein. Ich hab versucht, so zu leben, als gäbe es ihn nicht. Er hat mich ein oder zwei Mal angerufen, seit dem ich nicht mehr zuhause wohne, aber nicht wegen mir. Wegen Geld. Und ..."
Nein, das wollte ich lieber nicht sagen, das war nun wirklich albern.
"Und?"
Na gut, aber das wäre dann auch das letzte. "Ich versuche zu vergessen, wie er heißt. Dass es ihn
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