Die Ewigen
Vortrag ließ er Fotos über den Bildschirm laufen - als Erstes kamen die Aufnahmen an die Reihe, die Sven in Sharas Heimatstadt in der Nähe von Bremen gemacht hatte. Eine verschlafene Kleinstadt von etwa dreißigtausend Einwohnern mit einer hübschen Altstadt, Neubaugebiete und Gewerbeflächen strebten den umliegenden Dörfern zu, würden sich diese bald einverleibt haben. Ihr Elternhaus war ein älterer Einfamilienbungalow mit schlichter Architektur, sah aber gepflegt aus. Knopfäugige Terrakotta-Igel im schmalen Garten, kein wirklicher Kitsch in der Wohnung, aber alles viel zu voll: Blumen, Deckchen, Kerzen, Bilder - kaum eine Fläche war frei.
Die Möbel waren neutral, weder altmodisch noch modern - eher für lange Haltbarkeit ausgewählt denn mit besonderem Blick auf das Aussehen. Die Lieblingsfarbe ihrer Eltern schien Braun zu sein, auch eine Vorliebe für abstrakte Stoffmuster und Kiefernholz war nicht zu verleugnen. Ein relativ neuer japanischer Mittelklassewagen stand vor der Tür, in neutralem Silber - wahrscheinlich hatte es den nicht in Braun gegeben, leider. Die Eltern hatte Sven getrennt geknipst: den Vater, als er morgens zur Arbeit gefahren war, die Mutter später beim Gießen der Blumen im Beet vor der Haustür. Die Mutter war klein und rundlich, hatte einen schmalen, verkniffenen Mund - sie wirkte nicht sonderlich mütterlich, auch konnte ich außer der Haarfarbe keinerlei optische Verwandtschaft zu unserem gertenschlanken Blondie bei ihr entdecken. Vom Vater hatte Shara immerhin ihre nicht unbeträchtliche Größe geerbt, überragte der seine Frau doch locker um zwei Köpfe - aber auch er schleppte ein paar Pfund zu viel mit sich herum, wirkte mit den schütteren Haaren und dem schwabbeligen Bauch schlaff und antriebslos. Kleinbürgerliche, langweilige Spießer, dachte ich spontan: Diese Eltern passten ja mal gar nicht zu unserem Blondie, das wahrscheinlich gerade wieder einen kilometerlangen Marsch durch die Stadt absolvierte und dabei mit ihren großen Augen alles ansah, alles interessant fand, zu allem dreihundert Fragen hatte.
"Ich fange mit ihren Eltern an, dann gehen wir chronologisch weiter", eröffnete Shane. "Bitte stellt eure Fragen sofort, dann müssen wir nicht so viel hin und her springen. Ich sage am besten gleich jetzt, dass es zahlreiche Lücken gibt - aber die liegen nicht unbedingt an der knappen Zeit, die wir hatten. Shara führt nicht gerade ein sehr öffentliches Leben, so dass wir heute meiner Meinung nach dem Kern der ganzen Sache - nämlich der Frage, wer und wie sie wirklich ist - nicht auf die Spur kommen werden."
Andreas nickte Shane aufmunternd zu, der legte los.
"Die Eltern haben 1975 geheiratet, die Mutter war damals schwanger: nicht mit Shara, sondern mit ihrem älteren Bruder Matthias. Beide Eltern sind Einzelkinder, beide Großelternpaare sind tot, also keine besonders große Familie. Die Eltern haben beide einen Realschulabschluss. Der Vater ist Lagerist und seit der Lehre im gleichen Betrieb angestellt, die Mutter ist Bürokraft. Sie hat nach der Geburt des Sohnes aufgehört zu arbeiten, drei Jahre nach Sharas Geburt aber wieder angefangen - ein Halbtagsjob in einem Notariatsbüro in der Stadt. Vor drei Jahren hat sich der Notar in den Ruhestand verabschiedet und sie hat sich nichts Neues mehr gesucht. Ein ruhiges Leben, würde ich mal sagen, mit jährlich zwei Wochen Urlaub in Österreich - immer der gleiche Ort, immer das gleiche Hotel. Ansonsten scheinen die Eltern ihre Freizeit im Sommer im Garten und im Winter vor dem Fernseher zu verbringen: Sie haben zwar jede Menge anspruchsvolle Literatur im Regal, aber gelesen hat die Bücher wohl nur Shara."
Shane machte eine kleine Pause und die erwartete Frage kam von Ciaran. "Wie kommst du darauf?"
"Eine witzige Sache, wäre mir fast entgangen. Shara scheint früher die Bücher, die sie gelesen hat, mit kleinen Bleistiftstrichen markiert zu haben - so wie man etwas abzählt, mit dem fünften Strich diagonal durch die vier anderen. Ich habe diese Markierung in ein paar vergilbten Taschenbüchern gefunden, die in ihrer Wohnung waren und noch aus der Jugend stammten. Sven hat das für mich in ihrem Elternhaus überprüft und ist in sehr vielen Bänden fündig geworden. Das Besondere daran: Bücher mit Markierung sehen gelesen aus - die meisten anderen knirschen noch, wenn man sie öffnet. Sagt weniger über Shara, aber einiges über die Eltern. Bei manchen Strichen waren übrigens auch Jahreszahlen dabei, und sie
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