Die Fackeln der Freiheit: Ein Lord-John-Roman (German Edition)
was sich zu stehlen lohnte. Oder daran, dass sie davon ausgegangen waren, dass er zurückkehren würde, und sich nicht getraut hatten, seine Kiste anzurühren. Seine Decke war allerdings fort.
Aber seine persönlichste Habe war etwas, das weder verloren gehen noch gestohlen werden konnte. Er spreizte die linke Hand, wo sich der Buchstabe »C« – etwas krumm hineingeritzt, aber nach wie vor deutlich lesbar – als dünne weiße Linie an seiner Daumenwurzel abzeichnete. Er nahm an, dass auch sein »J« auf ihrer Hand noch gut zu sehen war. Zumindest hoffte er das.
Eines hatte er noch zu verstauen. Er hob den schweren kleinen Geldbeutel ganz unten aus dem Sack und versteckte ihn unter den zusammengeballten Strümpfen, dann schloss er die Kiste und stieg behände wie eine Ziege die Leiter hinunter.
Jamie war überrascht über das Gefühl des Friedens, das er im Stall empfand. Es war zwar genau gesagt keine Heimkehr – dieser Ort würde nie seine Heimat sein –, doch es war ein Ort, den er kannte, dessen Tagesrhythmus ihm vertraut war und an dem es immer frische Luft und die ruhige, freundliche Gegenwart der Pferde gab, ganz gleich, wie die Menschen waren.
Er ritt mit seinen Handpferden die Straße am Weiher entlang, dann ein wenig hügelaufwärts – nicht ins Hochmoor, sondern vorbei an den hinteren Koppeln, wo ein Grasweg über eine Reihe kleiner Hügel führte. Er blieb auf der höchsten Hügelkuppe stehen, um den Pferden eine Atempause zu gönnen und den Blick über Helwater hinwegschweifen zu lassen. Er liebte diesen Ausblick, wenn das Wetter denn so klar war, dass er zu sehen war: das große alte Haus, das gemütlich zwischen seinen Rotbuchen hockte, das silberne Wasser im Hintergrund, das sich im Wind wellte und dessen Schilfufer im Frühling und im Sommer mit Amseln besprenkelt war, deren klarer hoher Gesang zu ihm herüberdrang, wenn der Wind richtig stand.
Im Moment waren keine Vögel zu sehen außer einem kleinen Falken, der unterhalb des Hügelkamms kreiste und im abgestorbenen Gras nach Mäusen Ausschau hielt. Doch auf der Auffahrt bewegten sich winzige Gestalten; zwei Männer zu Pferd – Lord Dunsany und Lord John. Ersteren erkannte er an seinen gebeugten Schultern und an der Art, wie er den Kopf trug, Letzteren an seinem aufrechten, unverrückbaren Sitz und seinem lockeren, einhändigen Umgang mit den Zügeln.
»Gott sei mit dir, Engländer«, sagte er. Was auch immer John Grey bei Jamies Ankündigung, um Betty Mitchells Hand anhalten zu wollen, gedacht hatte – Jamie grinste bei dem Gedanken an Lord Johns komische Miene bei dem Versuch, sein Erstaunen zu unterdrücken und höflich zu bleiben –, er hatte Jamie zurück nach Helwater gebracht.
Vermutlich würde Grey in ein paar Tagen abreisen. Er fragte sich, ob sie wohl vorher noch einmal miteinander sprechen würden, und wenn ja, worüber. Keiner von ihnen würde die seltsame Freundschaft vergessen können, die aus der Not geboren zwischen ihnen entstanden war – genauso wenig wie die Tatsache, dass sie ihre Positionen als – im Grunde – Herr und Sklave wieder eingenommen hatten. Würde es ihnen jemals möglich sein, einander noch einmal als Gleichgestellte gegenüberzutreten?
» A posse ad esse «, murmelte er. Was kann, wird sein. Dann nahm er die Zügel wieder auf, rief den aneinandergebundenen Pferden »Hopp!« zu, und sie donnerten fröhlich den Hügel hinunter.
DER TAG WAR ZWAR KALT UND WINDIG , aber sonnig, und das Laub der Rotbuchen flog in wilden Wolken vorüber, als würde es verfolgt. Im ersten Moment hatte Grey besorgt reagiert, als Dunsany einen Ausritt vorschlug, denn der alte Mann war noch gebrechlicher geworden als bei Greys letztem Besuch. Doch die wilden Kapriolen von Sonne, Wind und Laub verliehen dem Tag einen Hauch von Abenteuer, der sich auf Dunsany zu übertragen schien. Sein Gesicht begann zu leuchten, und seine Hände schienen die Zügel sicher im Griff zu haben. Dennoch achtete Grey darauf, das Tempo moderat zu halten und seinen betagten Freund nicht aus den Augen zu lassen.
Nachdem sie die Auffahrt hinter sich gelassen hatten, bogen sie in die Straße ein, die am See entlangführte. Sie war schlammig – Grey hatte sie noch nie anders erlebt –, und in ihrem aufgewühlten Boden zeichneten sich Hufspuren ab, die sich allmählich mit Wasser füllten; erst vor Kurzem waren mehrere Pferde hier gewesen. Auch jetzt empfand Grey diesen leisen, aufgeregten Ruck, der ihn jedes Mal durchfuhr, wenn jemand in Helwater
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