Die Fackeln der Freiheit: Ein Lord-John-Roman (German Edition)
Euch nicht jemanden holen? Oder zumindest jemandem sagen, dass er Euch etwas Brandy bringt?«
»Nein, das solltet Ihr nicht«, sagte sie entschieden und griff in eine große Tasche an ihrer Taille, aus der sie eine kleine Flasche holte. »Ich habe über fünfzig Jahre keinen Alkohol getrunken, aber der Arzt sagt, ich brauche einen Tropfen für meine Gesundheit, und wer bin ich denn, dass ich ihm widerspreche? Setzt Euch, junger Mann.« Sie wies ihn an, sich neben ihr auf die Bank zu setzen, und ihre Geste war so herrisch, dass er gehorchte, nachdem er sich mit einem flüchtigen Blick vergewissert hatte, dass sie nicht beobachtet wurden.
Sie nippte an der Flasche, dann bot sie sie ihm an. Überrascht schüttelte er den Kopf, doch sie drückte ihm das Fläschchen in die Hand.
»Ich bestehe darauf, junger Mann – wie heißt Ihr eigentlich? Ich kann Euch ja nicht ständig ›junger Mann‹ nennen.«
»Alex MacKenzie, Schwester«, sagte er und trank anstandshalber einen Schluck des eindeutig exzellenten Brandys, bevor er ihr die Flasche zurückgab. »Schwester, ich muss wieder an die Arbeit. Lasst mich jemanden holen …«
»Nein«, sagte sie entschlossen. »Ihr habt mir einen Dienst erwiesen, Mr MacKenzie, indem Ihr mich zu meinem Friedstuhl gebracht habt, doch Ihr würdet mir einen noch größeren Dienst erweisen, wenn Ihr den Bewohnern des Hauses nicht sagt, dass ich hier bin.« Sie sah seine Verwunderung und lächelte, wobei sie drei oder vier ziemlich abgenutzte gelbe Zähne freigab. Trotzdem war es ein einnehmendes Lächeln.
»Ist Euch der Begriff nicht vertraut? Ah. Ich verstehe. Ihr seid Schotte, und doch habt Ihr mich von selbst mit ›Schwester‹ angeredet, woraus ich schließe, dass Ihr Papist seid. Vielleicht haben Papisten keine Friedstühle in ihren Kirchen?«
»Vielleicht ja nicht in schottischen Kirchen, Schwester«, sagte er vorsichtig. Er hatte zuerst gedacht, es sei vielleicht eine Art Leibstuhl, wahrscheinlich jedoch nicht, wenn es in Kirchen zu finden war.
»Nun, jeder sollte einen haben«, sagte sie entschlossen, »ob Papist oder nicht. Ein Friedstuhl ist ein Sitz der Zuflucht. Kirchen – englische Kirchen – haben sie oft für Personen, die Asyl suchen, obwohl ich sagen muss, dass sie heutzutage nicht mehr so oft zum Einsatz kommen wie in vergangenen Jahrhunderten.« Sie schwenkte ihre vom Rheuma geschwollene Hand und trank noch einen Schluck.
»Da mir meine Zelle nicht mehr als Refugium zur Verfügung steht, musste ich mir einen Friedstuhl suchen. Und ich glaube, ich habe gut gewählt«, fügte sie hinzu und ließ ihren Blick zufrieden durch den Pavillon schweifen.
Das hatte sie, wenn es ihr um Zurückgezogenheit ging. Der Pavillon, ein griechischer Miniaturtempel, war von einem längst vergessenen Architekten errichtet worden, und sein Standort hatte zwar im Sommer viele Vorteile, da er von Rotbuchen umringt war und auf den See hinausblickte, doch er stand auch in einiger Entfernung vom Haus, und es war seit Monaten niemand mehr hier gewesen. In den Ecken hatten sich Laubhaufen gesammelt, eines der Holzspaliere hing nur noch an einem Nagel, nachdem ein Wintersturm es losgerissen hatte, und die weißen Säulen, die den Eingang umrahmten, waren voller alter Spinnweben und Schmutzspritzer.
»Es ist ein wenig kühl, Schwester«, sagte er so taktvoll wie möglich. Es war so kalt wie im Inneren eines Grabmals, und er wollte ihren Tod weder auf dem Gewissen haben noch ihn vorgeworfen bekommen.
»In meinem Alter, Mr MacKenzie, ist Kälte der natürliche Zustand«, sagte sie friedvoll. »Vielleicht will uns die Natur so den Übergang in die endgültige Kühle des Grabes erleichtern. Nicht, dass es schlimmer wäre – oder sehr viel schneller ginge –, an einer Rippenfellentzündung zu sterben als an der Wassersucht, wie ich es tue. Aber ich habe ja nicht nur den Brandy dabei, sondern auch einen warmen Umhang.«
Er gab auf; er kannte genug sturköpfige Frauen, um zu wissen, wann Widerspruch zwecklos war. Dennoch wünschte er, Claire wäre hier, um ihm zu sagen, welchen Eindruck sie vom Zustand der alten Schwester hatte, ihr vielleicht einen helfenden Trank zu verabreichen. Er kam sich so hilflos vor – und war überrascht, wie stark sein Wunsch war, der alten Nonne zu helfen.
»Ihr könnt jetzt gehen, Mr MacKenzie«, sagte sie sanft und legte ihre Hand auf die seine, so leicht wie die Berührung einer Motte. »Ich werde niemandem erzählen, dass Ihr mich hierhergebracht
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