Die Fährte
Fenster ging mit einem Knall auf.
»Trond ist nicht da«, krächzte es. Das blondierte Haar hatte seit dem letzten Mal ganz offensichtlich erneut Bekanntschaft mit Chemikalien gemacht, doch die Kopfhaut schimmerte durch die gequälte Haarpracht. »Waren Sie im Süden?«
Harry hob sein sonnengebräuntes Gesicht und blinzelte sie an.
»Irgendwie schon. Wissen Sie, wo er ist?«
»Er packt Sachen ins Auto«, sagte sie und deutete zur anderen Seite der Häuser. »Ich glaube, er will verreisen, der Arme.«
»Hm.«
Beate wollte gehen, doch Harry blieb stehen. »Sie wohnen hier doch sicher schon eine ganze Weile, oder?«, fragte er.
»O ja. Seit zweiunddreißig Jahren.«
»Dann erinnern Sie sich doch bestimmt noch an Lev und Trond, als sie klein waren?«
»Natürlich. Die haben ja das ganze Viertel geprägt.« Sie lächelte und beugte sich aus dem Fenster. »Besonders Lev. Ein richtiger Charmeur. Es war uns schon früh klar, dass der den Mädels gefährlich werden konnte.«
»Gefährlich, ja. Sie erinnern sich doch sicher an den alten Mann, der von der Fußgängerbrücke gefallen ist?«
Ihr Gesicht verfinsterte sich und dann flüsterte sie mit unheilschwangerer Stimme: »O ja, eine schreckliche Sache. Ich habe gehört, dass er nie wieder richtig laufen konnte, der arme Alte. Seine Knie sind steif geworden. Können Sie sich vorstellen, dass ein Kind auf so boshafte Ideen kommen kann?«
»Hm, er war doch bestimmt so ein richtiger Wildfang.«
»Ein Wildfang?« Sie legte die Hand über die Augen. »Das würde ich eigentlich nicht sagen. Er war ein höflicher, wohlerzogener Junge. Das war ja das Schockierende.«
»Und alle in der Nachbarschaft wussten, dass er es war, der das getan hatte?«
»Alle. Ich habe selbst hier vom Fenster gesehen, wie er in seiner roten Jacke losgeradelt ist. Und ich hätte wissen müssen, dass etwas Schreckliches geschehen ist, als er zurückkam. Der Junge war ganz blass.« Sie schauderte wie von einem kalten Windhauch. Dann deutete sie in Richtung Straße.
Trond kam mit hängenden Armen auf sie zu. Er ging immer langsamer und blieb schließlich fast stehen.
»Es ist Lev, nicht wahr?«, sagte er, als er endlich vor ihnen stand.
»Ja«, entgegnete Harry.
»Ist er tot?«
Im Augenwinkel sah Harry das entgeisterte Gesicht im Fenster. »Ja, er ist tot.«
»Gut«, sagte Trond. Dann beugte er sich vor und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Bjarne Møller stand am Fenster und starrte mit besorgter Miene nach draußen, als Harry durch die halb offene Tür schaute. Er klopfte vorsichtig an.
Møller drehte sich um und sein Gesicht hellte sich auf. »Oh, hallo.«
»Hier ist der Bericht, Chef.« Harry warf einen grünen Umschlag auf den Schreibtisch.
Møller ließ sich auf seinen Stuhl fallen, verstaute mit etwas Mühe seine langen Beine unter dem Schreibtisch und setzte die Brille auf.
»Ah ja«, murmelte er, als er den Umschlag mit der Überschrift DOKUMENTENLISTE öffnete. Er enthielt nur einen einzigen DIN-A4-Zettel.
»Ich dachte mir, dass ihr nicht alle Einzelheiten wissen wollt«, sagte Harry.
»Wenn du das meinst, wird es schon stimmen«, sagte Møller und fuhr mit den Augen über die wenigen Zeilen.
Harry sah über die Schulter seines Chefs aus dem Fenster. Dort draußen gab es nichts zu sehen, nur dicken, nassen Nebel, der sich wie eine voll gepinkelte Windel über die Stadt gelegt hatte. Møller legte den Zettel zur Seite.
»Ihr seid also einfach da runtergefahren und habt von jemandem die Adresse erfahren, wo ihr den Exekutor dann erhängt vorgefunden habt?«
»In groben Zügen, ja.«
Møller zuckte mit den Schultern. »Das reicht mir voll und ganz, so lange wir nur hieb- und stichfeste Beweise haben, dass das wirklich unser Mann war.«
»Weber hat die Fingerabdrücke heute Morgen überprüft.«
»Und?«
Harry setzte sich auf den Stuhl. »Sie stimmen mit denen überein, die wir auf der Colaflasche gefunden haben, die der Täter vor dem Überfall in der Hand hatte.«
»Können wir sicher sein, dass es wirklich die gleiche Flasche ist …«
»Beruhig dich, Chef, wir haben die Flasche und den Mann auf Video. Und gerade hast du doch gelesen, dass wir einen handgeschriebenen Abschiedsbrief gefunden haben, in dem Lev Grette alles gesteht, nicht wahr? Wir waren heute Morgen in Disengrenda und haben Trond Grette Bescheid gegeben. Wir durften uns ein paar von Levs alten Schulbüchern ausleihen, die noch auf dem Dachboden lagen, und Beate hat sie zum Graphologen des
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