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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hatte. Er folgte den glänzenden Ameisenkörpern über einen schmutzigen Teppich ins Nebenzimmer. Dort bog die Kolonne abrupt nach links ab und lief an der Wand weiter. Der Lichtkegel fing auf dem Weg nach oben den Rand eines Kamasutra-Bildes ein. Die Ameisenkarawane bog erneut ab und lief nun unter der Zimmerdecke weiter. Harry legte den Kopf zurück. Sein Nacken schmerzte wie niemals zuvor. Jetzt waren sie direkt über ihm. Er musste sich umdrehen. Der Lichtkegel irrte etwas herum, ehe er zurück zu den Ameisen fand. War das wirklich der kürzeste Weg zu ihrem Bestimmungsort? Weiter kamen Harrys Gedanken nicht, ehe er in Lev Grettes Gesicht starrte. Sein Körper türmte sich vor Harry auf, der die Lampe fallen ließ und nach hinten taumelte. Und obgleich ihm sein Hirn verriet, dass es zu spät war, tasteten seine Hände wie in einer Mischung aus Schock und Dummheit nach einer Namco G-Con 45, an der er sich festhalten konnte.
     

 
     
     

    Kapitel 28 – Lava pe
     
    Beate hielt den Gestank nur ein paar Minuten aus, dann musste sie nach draußen stürmen. Sie stand gebeugt im Dunkeln, als Harry ihr hinterhertaumelte, sich auf die Treppe setzte und eine Zigarette anzündete.
    »Macht dir der Geruch denn nicht zu schaffen?«, stöhnte Beate, während ihr das Erbrochene aus Mund und Nase troff.
    »Dysosmie.« Harry studierte die Glut seiner Zigarette. »Teilweiser Verlust des Geruchssinns. Es gibt bestimmte Sachen, die ich nicht mehr riechen kann. Aune meint, ich hätte zu viele Leichen gerochen. Emotionales Trauma und so.«
    Beate erbrach sich erneut.
    »Tut mir Leid«, keuchte sie. »Das ist wegen der Ameisen. Ich meine, warum müssen diese ekligen Viecher auch gerade die Nasenlöcher als eine Art zweispurige Autobahn nutzen?«
    »Tja. Wenn du es wirklich wissen willst, kann ich dir gerne sagen, wo sich die proteinreichsten Teile des menschlichen Körpers befinden. Entschuldigung.« Harry ließ die Zigarette auf den trockenen Boden fallen. »Du hast dich da drinnen tapfer geschlagen, Lønn. Das ist etwas anderes als auf einem Video.« Er stand auf und ging wieder hinein.
    Lev Grette hing an einem kurzen Tau, das am Lampenhaken befestigt war. Er schwebte gut einen halben Meter über dem Boden, auf dem der umgestoßene Stuhl lag, was der Grund dafür war, dass neben den Ameisen bislang nur die Fliegen das Monopol auf den Leichnam hatten.
    Beate hatte das Mobiltelefon samt Ladegerät auf dem Boden neben dem Sofa gefunden und gesagt, dass sie schnell herausfinden könne, wann er zuletzt mit jemandem gesprochen habe. Harry ging in die Küche und schaltete das Licht ein. Auf einem A4-Zettel auf dem Tisch hockte eine blaumetallische Kakerlake und wedelte mit den Fühlern, ehe sie schnell den Rückzug hinter den Schrank antrat. Harry nahm den Zettel. Er war handgeschrieben. Er hatte alle möglichen Abschiedsbriefe gelesen und die wenigsten davon waren als große Literatur zu rechnen. Die berühmten letzten Worte waren in der Regel ein verwirrtes Geplapper, desperate Hilferufe oder ganz prosaische Instruktionen, wer den Toaster und den Rasenmäher erben sollte. Einen der aussagekräftigsten Texte hatte Harry bei einem Bauern im Maridal vorgefunden. Er hatte mit Kreide an die Scheunenwand geschrieben: Hier drinnen hängt ein Toter. Bitte rufen Sie die Polizei. Es tut mir Leid. So gesehen war Lev Grettes Brief, wenn schon nicht einzigartig, so doch ungewöhnlich.
     
    Lieber Trond,
    ich habe mich immer gefragt, was er empfunden hat, als die Überführung plötzlich unter ihm nachgab. Als sich der Abgrund unter ihm öffnete und er begriff, dass ihm gerade etwas vollkommen Idiotisches geschah, dass er völlig sinnlos sterben sollte. Vielleicht gab es noch Sachen, die er hätte erledigen wollen. Vielleicht wartete an diesem Morgen irgendwo irgendjemand auf ihn. Vielleicht dachte er, dass genau dieser Tag der Anfang von etwas Neuem sein sollte. Was dann ja auch eintraf …
    Ich habe dir nie erzählt, dass ich ihn im Krankenhaus besucht habe. Ich habe einen großen Strauß Rosen mitgenommen und ihm gesagt, dass ich das Ganze von meinem Fenster aus in einem der Hochhäuser beobachtet habe und dass ich den Krankenwagen gerufen und der Polizei die Beschreibung des Täters und des Fahrrads gegeben hätte. Und er lag da im Bett, so klein und grau und hat sich bei mir bedankt. Schließlich habe ich ihn wie so ein Sportreporter gefragt, was er gefühlt hat. Er gab keine Antwort, sondern lag bloß mit all den Schläuchen und tropfenden

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