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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Flaschen da und sah mich an. Dann dankte er mir noch einmal, und eine der Schwestern sagte, ich solle jetzt gehen.
    Deshalb erfuhr ich nicht, wie sich das anfühlt. Bis sich eines Tages auch unter mir der Abgrund öffnete. Und zwar nicht, als ich nach dem Raub über die Industrigata floh. Auch nicht, als ich anschließend das Geld zählte oder mir die Nachrichten ansah. Es war genau wie bei dem alten Mann, es geschah an einem Morgen, an dem ich nicht die Spur Böses ahnte. Die Sonne schien, ich war sicher zurück in D'Ajuda, ich konnte mich entspannen und mir Zeit zum Nachdenken nehmen. Und ich dachte nach. Ich dachte, dass ich dem Menschen, den ich am meisten liebe, das genommen habe, was er am meisten liebte. Dass ich zwei Millionen Kronen zum Leben hatte, aber nichts, wofür es wert war zu leben. Das war heute Morgen. Ich erwarte nicht, dass du verstehst, was ich getan habe, Trond. Dass ich eine Bank überfiel, dass sie mich erkannte und ich plötzlich in einem Spiel gefangen war, das seine eigenen Regeln hat, nichts davon hat Platz in deiner Welt. Und ich erwarte auch nicht, dass du verstehst, was ich jetzt tun werde. Aber ich glaube, dass du vielleicht verstehst, dass man es leid werden kann. Das Leben. Lev
     
    PS: Damals fiel es mir nicht auf, dass der Alte nicht lächelte, als er mir dankte. Aber heute musste ich daran denken, Trond. Dass er vielleicht doch nichts oder niemanden hatte, der auf ihn wartete. Dass er vielleicht einfach bloß erleichtert war, als sich der Abgrund öffnete und er dachte, dass er es jetzt nicht mehr selbst zu tun brauchte.
     
     
    Beate stand auf einem Stuhl neben der Leiche von Lev, als Harry ins Zimmer kam. Sie kämpfte mit einem von Levs Fingern, dessen Kuppe sie gegen eine kleine, blanke Metallbox zu drücken versuchte.
    »Mist«, sagte sie. »Die Tintenrolle hat im Hotelzimmer in der Sonne gelegen und ist trocken geworden.«
    »Wenn du keine ordentlichen Abdrücke bekommst, müssen wir die Feuerwehrmethode nehmen«, sagte Harry.
    »Und das wäre?«
    »Menschen, die verbrennen, ballen automatisch die Fäuste. Selbst bei verkohlten Leichen ist deshalb manchmal die Haut der Fingerkuppen intakt, so dass man sie dadurch identifizieren kann. Manchmal muss die Feuerwehr deshalb einen Finger abtrennen und ihn mit in die Kriminaltechnik nehmen.«
    »Das ist Leichenschändung.«
    Harry zuckte mit den Schultern: »Sieh dir die andere Hand an, ihm fehlt schon ein Finger.«
    »Das habe ich auch gesehen«, sagte sie. »Sieht aus, als wäre der glatt abgeschnitten worden. Was kann das bedeuten?«
    Harry kam näher und leuchtete mit der Taschenlampe. »Die Wunde hat sich noch nicht geschlossen, trotzdem ist da wenig Blut. Das deutet darauf hin, dass der Finger abgeschnitten wurde, nachdem er sich erhängt hatte. Vielleicht ist hier jemand aufgetaucht und hat gesehen, dass ihm Lev die Arbeit schon abgenommen hat.«
    »Und wer?«
    »Tja, in manchen Ländern strafen Zigeuner Diebe dadurch, dass sie ihnen einen Finger abschneiden«, sagte Harry. »Wenn es denn Zigeuner waren, die sie bestohlen haben, wohlgemerkt.«
    »Ich glaube, ich habe gute Abdrücke bekommen«, sagte Beate und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sollen wir ihn herunterlassen?«
    »Nein«, sagte Harry. »Wenn wir alles untersucht haben, räumen wir hier auf und verschwinden. Ich habe auf der Hauptstraße eine Telefonzelle gesehen. Von dort können wir anonym die Polizei anrufen und Bescheid geben. Wenn wir wieder in Oslo sind, rufst du an und lässt dir den Obduktionsbericht schicken. Ich zweifle nicht daran, dass er erstickt ist, aber ich will den genauen Zeitpunkt seines Todes wissen.«
    »Und was ist mit der Tür?«
    »Da kann man wohl nichts machen.«
    »Und mit deinem Nacken? Die Bandage ist ganz rot.«
    »Vergiss den Nacken. Der Arm, auf den ich geflogen bin, nachdem ich durch die Tür gefallen bin, tut viel mehr weh.«
    »Wie weh?«
    Harry hob den Arm vorsichtig an und schnitt eine Grimasse. »Es geht, solange ich ihn nicht bewege.«
    »Sei froh, dass du nicht das Setesdalzucken hast.«
    Zwei der drei im Raum lachten, doch ihr Gelächter verstummte rasch.
     
    Auf dem Weg zum Hotel fragte Beate, ob sich Harry jetzt auf alles einen Reim machen könne.
    »Rein technisch gesehen, ja. Aber irgendwie passt für mich bei Selbstmord nie alles zusammen.« Er warf die Zigarette weg, die eine funkelnde Parabel in das fast greifbare Dunkel zeichnete. »Aber so bin ich.«
     

 
     
     

    Kapitel 29 – Zimmer 316
     
    Das

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