Die Fährte
Abend bei … Anna verloren. Scheiße!«
»Und du bist nicht auf den Gedanken gekommen, dass es vielleicht klug wäre, die Nummer sperren zu lassen?«
»Gedanken?« Harry stöhnte. »Seit diese Scheiße läuft, habe ich keinen klaren Gedanken mehr fassen können, Øystein! Sorry, dass ich hier ausraste, aber das ist so verflucht einfach. Deshalb habe ich mein Handy bei Anna auch nicht wiedergefunden. Und deshalb ist der auch so siegessicher.«
»Tut mir Leid, wenn ich dir den Tag versaut habe.«
»Moment mal«, sagte Harry plötzlich zufrieden. »Wenn wir beweisen können, dass er mein Handy hat, können wir auch beweisen, dass er bei Anna war, nachdem ich gegangen bin!«
»Jippi!«, krächzte es durch den Hörer zurück. Und dann etwas vorsichtiger: »Wenn das bedeutet, dass du also trotzdem happy bist? Hallo? Harry?«
»Ich bin hier, ich denke nach.«
»Nachdenken ist gut. Denk du weiter nach, ich habe eine Verabredung mit einer gewissen Stella. Mehrere eigentlich. Also, wenn ich das Flugzeug nach Oslo kriegen soll …«
»Mach's gut, Øystein.«
Harry blieb mit dem Hörer in der Hand stehen und fragte sich, ob er ihn seinem Spiegelbild ins Gesicht schmeißen sollte. Als er am nächsten Tag aufwachte, hoffte er, das Gespräch mit Øystein nur geträumt zu haben. Das hatte er auch, mindestens sechs-, siebenmal.
Raskol saß, den Kopf auf die Hände gestützt, da, während Harry redete. Er rührte keinen Finger, als Harry erzählte, wie sie Lev Grette gefunden hatten und weshalb Harrys eigenes Handy daran schuld war, dass sie noch keine Beweise gegen Annas Mörder hatten. Als er fertig war, faltete Raskol die Hände und hob ganz langsam seinen Kopf: »Sie haben Ihren Fall also gelöst. Während der meine noch immer ungeklärt ist.«
»Ich sehe darin nicht meinen und Ihren Fall, Raskol. Ich bin dafür verantwortlich …«
»Ich sehe das aber so, Spiuni«, unterbrach ihn Raskol. »Und ich betreibe Kriegsorganisation.«
»Hm. Und was genau meinen Sie damit?«
Raskol schloss die Augen. »Habe ich Ihnen erzählt, wie der König von Wu Sun Tzu eingeladen hat, die Hofkonkubinen in die Kunst der Kriegsführung einzuweisen, Spiuni?«
»Äh … Nein.«
Raskol lächelte. »Sun Tzu war ein Intellektueller und er erklärte den Frauen pädagogisch exakt die einzelnen Marschkommandos. Doch als die Trommeln begannen, marschierten sie nicht los, sondern kicherten und lachten bloß. ›Es ist die Schuld des Generals, wenn die Kommandos nicht verstanden werden‹, sagte Sun Tzu und begann erneut zu erklären. Doch das Gleiche wiederholte sich, als später erneut das Marschkommando gegeben wurde. ›Es ist die Schuld der Offiziere, wenn ein verstandenes Kommando nicht befolgt wird‹, sagte er dann und gab zweien seiner Leute den Befehl, die Anführerinnen der Konkubinen zu holen. Sie wurden vorgeführt und vor den Augen der anderen entsetzten Frauen geköpft. Als der König erfuhr, dass zwei seiner Lieblingskonkubinen hingerichtet worden waren, wurde er krank und musste viele Tage das Bett hüten. Als er wieder aufstand, gab er Sun Tzu das Kommando über seine bewaffneten Kräfte.« Raskol öffnete wieder die Augen. »Was lehrt uns diese Geschichte, Spiuni?«
Harry antwortete nicht.
»Nun, sie lehrt uns, dass die Kriegsorganisation durch und durch logisch und konsequent sein muss. Wird man inkonsequent, sitzt man mit einem Haufen kichernder Konkubinen da. Als Sie kamen und mich um weitere vierzigtausend Kronen baten, bekamen Sie sie, weil ich an die Geschichte mit dem Bild in Annas Schuh glaubte. Weil Anna Zigeunerin war. Wenn Zigeuner auf Reisen sind, machen sie an allen Weggabelungen ein patrin. Ein rotes Taschentuch an einem Zweig, eine Kerbe in einem Knochen, alles hat seine spezielle Bedeutung. Ein Bild bedeutet, dass jemand tot ist. Oder sterben wird. Davon konnten Sie nichts wissen, und deshalb glaubte ich, dass Ihre Geschichte wahr war.« Raskol legte die Hände mit nach oben gedrehten Handflächen auf den Tisch. »Aber der Mann, der der Tochter meines Bruders das Leben genommen hat, ist frei, und wenn ich Sie jetzt ansehe, dann sehe ich eine kichernde Konkubine, Spiuni. Absolute Konsequenz. Also, geben Sie mir seinen Namen, Spiuni.«
Harry holte tief Luft. Zwei Worte. Vier Silben. Wenn er Albu selbst entlarvte, welches Urteil würde gesprochen werden? Vorsätzlicher Mord aus Eifersucht? Neun Jahre, wovon er nur sechs absitzen musste? Und die Konsequenzen für Harry selbst? Die Ermittlungen würde ohne
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