Die Fährte
Sorgenfrigata Selbstmord begangen hatte. Die Sache war längst zu den Akten gelegt worden, Waaler selbst hatte den Selbstmord festgestellt und den Bericht geschrieben. Auf was wollte dieser verrückte Hole also hinaus? War das der Versuch, sich für alte Auseinandersetzungen zu rächen? Versuchte Hole zu beweisen, dass Anna Bethsen Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, um ihn, Tom Waaler, zu kompromittieren? So etwas würde dem verrückten Alkoholiker schon ähnlich sehen. Waaler konnte jedoch nicht glauben, dass Hole so viel Energie in eine Sache investierte, bei der doch nur herauskommen konnte, dass Waaler seine Schlüsse etwas zu vorschnell gezogen hatte. Dass Harrys Motiv einfach nur der Wunsch war, die Sache aufzuklären, wies er sofort von sich, nur in Filmen verwendeten Polizisten ihre Freizeit für so etwas.
Die Tatsache, dass Harrys Verdächtiger nun selbst getötet worden war, eröffnete natürlich eine ganze Reihe weiterer Möglichkeiten. Waaler wusste nicht, welche. Weil aber seine Nackenhaare anzeigten, dass es etwas mit Harry Hole selbst zu tun hatte, war er sehr daran interessiert, der Sache auf den Grund zu gehen. Und als Vigdis Albu schließlich fragte, ob Tom Waaler nicht auf einen Kaffee mit hereinkommen wolle, war es nicht allein der Gedanke an die frisch gebackene Witwe, der ihn ja sagen ließ, sondern auch die Aussicht auf eine Chance, den Mann abzuschütteln, der ihm schon so lange im Nacken saß. Wie lange war das nun schon her? Acht Monate?
Acht Monate waren vergangen, ja. Acht Monate, seit die Kommissarin Ellen Gjelten, aufgrund eines Fehlers von Sverre Olsen, Tom Waaler als Kopf des organisierten Waffenschmuggels in Oslo entlarvt hatte. Als er Olsen den Befehl gab, sie zu liquidieren, bevor sie ihr Wissen weitergeben konnte, hatte er natürlich gewusst, dass Hole niemals aufgeben würde, ehe nicht der Täter gefasst war. Deshalb hatte er selbst dafür gesorgt, dass die Mütze von Olsen am Tatort gefunden wurde, um den Mordverdächtigen dann »in Notwehr« während der Festnahme zu erschießen. Es führte keine Spur zu ihm, aber dennoch hatte Waaler hin und wieder das unangenehme Gefühl, dass Hole auf seiner Fährte war. Und dass er ihm gefährlich werden konnte.
»Es ist so leer im Haus, wenn alle weg sind«, sagte Vigdis Albu, als sie aufschloss.
»Wie lange sind Sie … schon allein?«, fragte Waaler, während er ihr über die Treppe nach oben ins Wohnzimmer folgte. Ihm gefiel noch immer, was er sah.
»Die Kinder sind bei meinen Eltern in Nordby. Eigentlich sollten sie nur so lange dort sein, bis sich alles normalisiert hat.« Sie seufzte und ließ sich in einen der tiefen Lehnsessel fallen. »Ich brauche einen Drink. Dann muss ich sie anrufen.«
Tom Waaler blieb stehen und sah sie an. Mit den letzten Worten hatte sie alles zerstört. Die leise Vibration, die zu spüren gewesen war, war verschwunden, und plötzlich sah sie viel älter aus. Vielleicht lag es daran, dass sie langsam wieder nüchtern wurde. Der Rausch hatte ihre Falten geglättet und ihren Mund, der mit einem Mal zu einer schiefen, rosa bemalten Spalte erstarrt war, weich gemacht.
»Setzen Sie sich, Tom. Ich werde uns Kaffee kochen.«
Er ließ sich aufs Sofa fallen, während Vigdis in der Küche verschwand. Er machte die Beine breit und bemerkte einen bleichen Fleck auf dem Sofastoff. Er erinnerte ihn an den Flecken auf seinem eigenen Sofa. Menstruationsblut.
Er lächelte bei dem Gedanken.
Dem Gedanken an Beate Lønn.
An die süße, unschuldige Beate, die auf der anderen Seite des Kaffeetischchens gesessen und jedes seiner Worte geschluckt hatte, als wären sie Zuckerwürfel in ihrem Caffe latte. Dem Kleinmädchendrink. Ich finde, das Wichtigste ist doch, dass man es wagt, man selbst zu sein. Das Wichtigste in einer Beziehung ist doch die Ehrlichkeit, nicht wahr? Bei jungen Mädchen war es manchmal nicht so leicht abzuschätzen, wie sehr man sich in altkluge Klischees verstricken sollte, doch bei Beate hatte er offensichtlich genau ins Schwarze getroffen. Sie war ihm willenlos nach Hause gefolgt, wo er ihr einen Drink gemischt hatte, der alles andere als ein Kleinmädchendrink war.
Er musste lachen. Sogar noch am Tag danach hatte Beate Lønn geglaubt, dass der Blackout auf ihre Müdigkeit zurückzuführen war, und dass der Drink nur ein wenig stärker gewesen sei, als sie es gewohnt war. Es kam eben auf die richtige Dosierung an.
Aber das Komischste war dann doch der Anblick am nächsten Morgen
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