Die Fährte
Ochsenpisse.
»Vor was haben Sie Angst, Fräulein Monsen?«
Ihre Pupillen wurden noch größer. Waalers Nackenhaare standen jetzt senkrecht.
»Es ist sehr wichtig, dass Sie uns helfen«, sagte Waaler. »Das Wichtigste in der Beziehung Polizei-Bürger ist die Ehrlichkeit, nicht wahr, Fräulein Monsen?«
Ihr Blick flackerte und er ging noch einen Schritt weiter. »Ich habe die Befürchtung, dass mein Kollege irgendwie in die Sache verstrickt sein könnte.«
Ihr Unterkiefer sackte nach unten und sie sah ihn hilflos an. Bingo.
Sie saßen in der Küche. Die braunen Wände waren mit Kinderzeichnungen verziert, und Waaler nahm an, dass sie eine ganze Reihe Nichten und Neffen hatte. Er machte sich während ihrer Unterhaltung Notizen.
»Ich hörte auf der Treppe Krach, und als ich nach draußen kam, sah ich einen Mann zusammengekrümmt auf dem Treppenabsatz vor meiner Tür liegen. Er war offensichtlich gefallen, und ich fragte ihn, ob er Hilfe brauche, bekam aber keine ordentliche Antwort. Da bin ich nach oben gegangen und habe bei Anna Bethsen geklingelt, aber auch dort hat sich keiner gerührt. Als ich wieder nach unten kam, half ich ihm auf die Beine. Der ganze Inhalt seiner Manteltaschen lag verstreut herum, darunter auch eine Geldbörse und eine Scheckkarte mit Namen und Adresse. Ich stützte ihn bis nach unten auf die Straße, rief ein Taxi und gab dem Chauffeur die Adresse. Mehr weiß ich nicht.«
»Und Sie sind sich sicher, dass das der gleiche Mann war, der Sie später aufsuchte? Also Harry Hole?«
Sie schluckte. Und nickte.
»Keine Sorge, Astrid, alles wird gut. Woher wussten Sie, dass er bei Anna war?«
»Ich hörte ihn kommen.«
»Sie hörten ihn kommen und hörten, dass er zu Anna ging?«
»Mein Arbeitszimmer liegt direkt neben dem Flur. Es ist hellhörig. Außerdem ist es ein ruhiges Haus, in dem sonst nicht viel passiert.«
»Haben Sie jemand anderen zu Anna kommen hören oder von dort gehen?«
Sie zögerte. »Mir war so, als hörte ich, wie sich jemand zu Anna hochschlich, kurz nachdem der Polizist gegangen war. Aber das hörte sich an wie eine Frau. Hohe Absätze, verstehen Sie. Die machen andere Geräusche. Aber vielleicht war das auch nur Frau Andersen aus dem dritten Stock.«
»Ach ja?«
»Sie versucht sich oft hochzuschleichen, wenn sie im Gamle Major etwas trinken war.«
»Haben Sie Schüsse gehört?«
Astrid schüttelte den Kopf. »Die Wohnungen sind gut schallisoliert.«
»Erinnern Sie sich an die Nummer des Taxis?«
»Nein.«
»Wie viel Uhr war es, als Sie den Lärm im Treppenhaus hörten?«
»Viertel nach elf.«
»Sind Sie sich ganz sicher, Astrid?«
Sie nickte. Atmete tief ein.
Waaler war überrascht über die plötzliche Festigkeit in ihrer Stimme, als sie sagte: »Er war es, er hat sie getötet.«
Er spürte, wie sein Puls schneller wurde. Ohne zu rasen. »Was macht Sie da so sicher, Astrid?«
»Als ich hörte, dass Anna an diesem Abend Selbstmord begangen haben soll, war mir klar, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Dieser sturzbetrunkene Mann auf der Treppe und dann die Tatsache, dass sie die Tür nicht öffnete, als ich klingelte, nicht wahr? Ich fragte mich schon, ob ich mich bei der Polizei melden sollte, doch dann tauchte der hier plötzlich wieder auf …« Sie sah Tom Waaler wie eine Ertrinkende an, die ihren Retter gesichtet hat. »Das Erste, was er mich fragte, war, ob ich ihn wiedererkannte. Und da war mir doch klar, was er meinte.«
»Was meinte er, Astrid?«
Ihre Stimme stieg um eine halbe Oktave. »Ein Mörder, der die einzige Zeugin fragt, ob sie ihn wiedererkennt? Was glauben Sie denn? Natürlich ist der gekommen, um mich zu warnen, um mir klar zu machen, was mit mir geschehen würde, wenn ich den Mund aufmache. Ich tat, was er wollte, und sagte, dass ich ihn noch niemals zuvor gesehen hatte.«
»Aber Sie sagten, dass er später noch einmal gekommen sei, um Sie über Arne Albu auszufragen?«
»Er wollte meine Hilfe, um die Schuld auf einen anderen zu schieben. Sie müssen verstehen, was für eine Angst ich hatte. Ich habe mir nichts anmerken lassen und so gut wie möglich mitgespielt …« Er hörte, wie die Tränen an ihren Stimmbändern zerrten.
»Aber jetzt sind Sie bereit, alles zu erzählen? Auch in einem Gerichtssaal unter Eid?«
»Ja, wenn Sie … wenn ich weiß, dass ich sicher bin.«
Aus einem anderen Zimmer ertönte das leise Signal einer ankommenden Mail. Waaler blickte auf die Uhr. Halb fünf. Es musste schnell geschehen.
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