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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Einzelnen das Gefühl zu geben, gesehen und bedankt zu werden, ehe er mit lustiger Stimme rief: »Und jetzt lasst uns aber endlich diesen Champagner killen!«
    Jemand schob die Flasche zu ihm hinüber, und nachdem er sie gründlich geschüttelt hatte, begann er den Korken herauszuziehen.
    »Ich halt das nicht aus«, flüsterte Harry Beate zu. »Ich hau ab.«
    Sie sah ihn mitleidig an.
    »Und jetzt Achtung!« Der Korken knallte an die Decke. »Nehmt alle ein Glas!«
    »Sorry«, sagte Harry. »Wir sehen uns morgen.«
    Er ging in sein Büro und holte seine Jacke. Im Fahrstuhl nach unten lehnte er sich an die Wand. Er hatte in der letzten Nacht nur ein paar Stunden in Albus Hütte geschlafen. Morgens um sechs war er zum Bahnhof nach Moss gefahren, hatte eine Telefonzelle gesucht, die Nummer der örtlichen Polizei herausgefunden und den Leichenfund im Meer gemeldet. Er wusste, dass sie die Osloer Polizei um Hilfe bitten würden. Als er gegen acht in Oslo ankam, hatte er sich deshalb in die Kaffeebrennerei im Ullevålsvei gesetzt und Cafe Cortado getrunken, bis er sich sicher sein konnte, dass der Fall jemand anderem übertragen worden war und er unbehelligt in sein Büro kommen konnte.
    Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Harry trat hinaus. Hinaus durch die Schwingtüren. Hinaus in die kalte, klare Herbstluft in Oslo, die angeblich verdreckter ist als die in Bangkok. Er mahnte sich selbst zur Ruhe und zwang sich, langsam zu gehen. Heute durfte er nicht denken, er musste bloß schlafen und hoffen, nicht zu träumen und morgen aufzuwachen und alle Türen hinter sich zugeschlagen zu finden.
    Alle, außer einer. Diejenige, die sich nicht schließen ließ, und die er nicht schließen wollte. Doch auch daran wollte er erst morgen wieder denken. Morgen wollten er und Halvorsen einen Spaziergang am Akerselva machen und an dem Baum stehen bleiben, an dem sie sie gefunden hatten. Zum hundertsten Mal rekonstruieren. Nicht, weil sie etwas vergessen hatten, sondern um wieder das Gefühl zu bekommen, erneut die Witterung aufzunehmen. Ihm schauderte bereits jetzt.
    Er wählte den Trampelpfad über die Wiese. Die Abkürzung. Er sah nicht zu dem grauen Gefängnisbau links von ihm hinüber. Wo Raskol sein Schachbrett wohl vorläufig wieder eingepackt hatte. Sie würden niemals etwas in Larkollen oder sonst wo finden, was auf den Zigeuner oder einen seiner Handlanger hindeutete, nicht einmal, wenn Harry selbst die Ermittlungen aufnehmen würde. Sollten sie so lange an der Sache dranbleiben, wie sie wollten. Der Exekutor war tot. Arne Albu war tot. Die Gerechtigkeit ist wie Wasser, hatte Ellen einmal gesagt. Sie findet immer ihren Weg. Sie wussten, dass das nicht stimmte, aber es war auf jeden Fall eine Lüge, in der man ab und zu Trost finden konnte.
    Harry hörte die Sirenen. Er hatte sie schon lange gehört. Die weißen Autos rasten mit Blaulicht an ihm vorbei und verschwanden über den Grønlandsleiret. Er versuchte, sich nicht zu fragen, warum sie ausrückten. Vermutlich ging es ihn nichts an. Und wenn doch, musste es warten. Bis morgen.
     
    Tom Waaler musste feststellen, dass er zu früh war. Die Bewohner des blassgelben Mietshauses schienen tagsüber anderes zu tun, als zu Hause zu sitzen. Er hatte soeben auf den untersten und damit letzten Klingelknopf gedrückt und sich zum Gehen gewandt, als er die bedrückte, metallisch klingende Stimme hörte: »Hallo?«
    Waaler wirbelte herum. »Guten Tag, spreche ich mit …«, er warf einen Blick auf das Namensschild neben der Klingel, »Astrid Monsen?«
    Zwanzig Sekunden später stand er im Flur und sah ein verängstigtes, sommersprossiges Gesicht, das ihn durch den Türspalt ansah. Die Sicherheitskette war vorgelegt.
    »Darf ich kurz reinkommen, Fräulein Monsen?«, fragte er und entblößte die Zähne zu seinem David-Hasselhoff-Spezial-Lächeln.
    »Lieber nicht«, piepste sie. Vielleicht kannte sie Baywatch nicht.
    Er gab ihr seinen Polizeiausweis.
    »Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob es etwas gibt, was wir über den Todesfall Anna Bethsen wissen sollten. Wir sind nicht mehr so sicher, ob es wirklich ein Selbstmord war. Ich weiß, dass ein Kollege von mir privat Nachforschungen angestellt hat, und habe mich gefragt, ob Sie vielleicht mit ihm gesprochen haben.«
    Tom Waaler hatte gehört, dass Tiere, vor allem Raubtiere, Furcht riechen konnten. Das wunderte ihn nicht. Was ihn wunderte war, dass nicht jeder dazu in der Lage war. Furcht hatte den gleichen flüchtig bitteren Geruch wie

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