Die Fährte
Am besten noch heute Abend.
Fünf nach halb fünf schloss Harry die Wohnungstür auf, während ihm gleichzeitig einfiel, dass er sich mit Halvorsen zum Radfahren verabredet hatte. Er trat sich die Schuhe von den Füßen, ging ins Wohnzimmer und drückte auf die Play-Taste des blinkenden Anrufbeantworters. Es war Rakel.
»Mittwoch wird das Urteil bekannt gegeben. Für Donnerstag habe ich Flugtickets bestellt. Um elf Uhr sind wir in Gardermoen. Oleg hat gefragt, ob du uns abholen kannst.«
Uns. Sie hatte gesagt, dass das Urteil augenblicklich in Kraft treten würde. Wenn sie verloren, gab es kein uns, das er abholen konnte, sondern nur einen Menschen, der alles verloren hatte.
Sie hatte keine Nummer hinterlassen, so dass er nicht zurückrufen und ihr mitteilen konnte, dass alles ausgestanden war und sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Er seufzte und ließ sich in den grünen Ohrensessel fallen. Er brauchte nur die Augen zu schließen und schon war sie da. Rakel. Das weiße, vor Kälte auf der Haut brennende Laken und die im offenen Fenster flatternden Gardinen, die einen Streifen Mondlicht hereinließen, der über ihren nackten Arm fiel. Er fuhr mit seinen Fingerspitzen unendlich vorsichtig über ihre Augen, ihre Hände, die schmalen Schultern, den langen, schlanken Hals, die Beine, die mit den seinen verstrickt waren. Er spürte ihren ruhigen, warmen Atem an seinem Hals, den Atem einer Schlafenden, der fast unmerklich den Rhythmus wechselte, als er ihr behutsam über den Rücken streichelte. Und ihre Hüften, die sich beinahe unmerklich auf die seinen zu bewegten, als habe sie im Schlaf nur gewartet.
Um fünf Uhr hob Rune Ivarsson das Telefon in seinem Haus in Østrås ab, um dem Anrufer mitzuteilen, dass sich die Familie gerade zu Tisch begeben habe und dass das gemeinsame Essen in diesem Hause heilig sei, weshalb er um einen späteren Rückruf bitte.
»Tut mir Leid, dass ich störe, Ivarsson. Hier ist Tom Waaler.«
»Hei, Tom«, sagt Ivarsson mit einer halb gekauten Kartoffel im Mund. »Aber ich muss dir sagen …«
»Ich brauche einen Haftbefehl gegen Harry Hole. Und einen Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung. Sowie fünf Personen, die die Sache durchführen. Ich habe Grund zur Annahme, dass Hole auf äußerst unglückliche Weise in einen Mordfall verstrickt ist.«
Ivarsson rutschte die Kartoffel in den Hals.
»Es eilt«, sagte Waaler. »Es besteht durchaus Gefahr, dass er Beweise verschwinden lässt.«
»Bjarne Møller«, war alles, was Ivarsson zwischen seinem Husten von sich geben konnte.
»Ja, doch, ich weiß, dass das streng genommen Bjarne Møllers Zuständigkeitsbereich ist«, sagte Waaler. »Aber ich denke, du bist wie ich der Meinung, dass er befangen ist. Er und Harry arbeiten seit zehn Jahren zusammen.«
»Da hast du allerdings Recht. Aber wir haben gerade heute einen anderen Fall bekommen, so dass meine Leute gebunden sind.«
»Rune …« Das war Ivarssons Frau. Er wollte sie nicht verärgern, schließlich war er schon zwanzig Minuten zu spät zum Essen gekommen, nachdem sie zuerst diesen Champagnerumtrunk gehabt hatten und dann noch der Notruf von der DnB-Filiale in Grensen eingegangen war.
»Ich ruf dich gleich zurück, Waaler. Ich werde den Staatsanwalt anrufen und sehen, was ich tun kann.« Er räusperte sich und fügte dann laut genug hinzu, dass seine Frau es sicher hörte: »Nach dem Essen.«
Harry wachte davon auf, dass es an seiner Tür laut klopfte. Sein Gehirn kam automatisch zu dem Schluss, dass das Klopfen von einer Person stammen musste, die schon eine ganze Weile klopfte und sich sicher war, dass Harry zu Hause war. Er sah auf die Uhr. Fünf vor sechs. Er hatte von Rakel geträumt. Er streckte sich und kämpfte sich aus dem Ohrensessel hoch.
Es klopfte wieder. Laut.
»Ja, ja«, rief Harry und ging zur Tür. Durch das Milchglas der Tür konnte er den Umriss einer Person erkennen. Er dachte, es sei vielleicht einer der Nachbarn, weil nicht unten geklingelt worden war.
Er hatte die Hand auf der Türklinke, als er plötzlich zögerte. Ein Kribbeln in seinem Nacken. Ein Fleck, der vor seinen Augen hin und her schwamm. Ein etwas zu schneller Pulsschlag. Unsinn. Er drehte den Schlüssel herum und drückte die Klinke nach unten.
Es war Ali. Er hatte die Augenbrauen wie ein V zusammengezogen.
»Du hast mir versprochen, dein Kellerabteil bis heute leer zu räumen«, sagte er.
Harry schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Scheiße! Sorry! Tut
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