Die Fährte
mir Leid. Ich bin so ein Chaot.«
»Ist schon in Ordnung, Harry, ich kann dir helfen, wenn du heute Abend Zeit hast.«
Harry sah ihn erstaunt an. »Mir helfen? Das bisschen da unten habe ich in zehn Sekunden weggeräumt. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich da unten überhaupt etwas habe, aber O.K.«
»Aber das sind doch wertvolle Sachen, Harry.« Ali schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, so etwas im Keller aufzubewahren.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich geh jetzt zu Schröder, was essen, und dann rufe ich dich an, Ali.«
Harry schloss die Tür, sank in den Ohrensessel und drückte auf die Fernbedienung. Nachrichten in Zeichensprache. Harry hatte einmal einen Fall bearbeitet, bei dem sie mehrere taube Personen verhören mussten, wobei er ein paar der Zeichen gelernt hatte, und jetzt versuchte er, die Gesten des Sprechers mit den Überschriften zu verknüpfen. Im Osten nichts Neues. Ein Amerikaner sollte vor das Kriegsgericht gestellt werden, weil er für die Taliban gekämpft hatte. Harry gab auf. Tagesmenü bei Schröder, dachte er. Ein Kaffee, eine Zigarette. Und dann ein Schwenk durch den Keller, ehe er ins Bett ging. Er nahm die Fernbedienung und wollte ausschalten, als er sah, wie der Sprecher seine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und nach oben gestrecktem Daumen auf ihn richtete. An das Zeichen erinnerte er sich. Jemand war erschossen worden. Harry dachte automatisch an Arne Albu, ehe ihm einfiel, dass der ja erstickt war. Er blickte auf die Untertitel und erstarrte im Sessel. Dann begann er frenetisch auf seiner Fernbedienung herumzudrücken. Das waren schlechte – vielleicht die schlechtest möglichen – Nachrichten. Auch der Videotext verriet ihm nicht viel mehr als die Untertitel:
Bankangestellte während eines Überfalls niedergeschossen. Ein Bankräuber hat eine Angestellte während eines Überfalls auf die DnB-Filiale in Grensen heute Nachmittag in Oslo niedergeschossen. Der Zustand der Bankangestellten ist kritisch.
Harry ging ins Schlafzimmer und schaltete den PC ein. Der Überfall war auch die Hauptschlagzeile der Nachrichtenseite. Er klickte sie an:
Kurz vor Filialschluss betrat der maskierte Täter die Bank und zwang die Filialchefin mit Waffengewalt, den Geldautomat zu leeren. Als ihr dies nicht in der Frist gelang, die ihr der Täter gesetzt hatte, schoss er eine andere 34-jährige Angestellte in den Kopf. Das Opfer schwebt noch in Lebensgefahr. Der zuständige Ermittlungsleiter Rune Ivarsson bestätigt, dass die Polizei bis jetzt noch keine Spur von dem Täter hat. Nicht kommentieren wollte er die Tatsache, dass dieser Überfall exakt dem Muster des so genannten »Exekutors« zu folgen scheint, den die Polizei, nach eigenen Aussagen, Anfang dieser Woche tot in D'Ajuda in Brasilien aufgefunden haben will.
Es konnte ein Zufall sein. Natürlich war das möglich. Aber das war es nicht. Keine Chance. Harry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. So etwas hatte er die ganze Zeit über befürchtet. Lev Grette hatte nur einen Überfall begangen. Die folgenden waren von einem anderen Täter ausgeführt worden. Einem, der jetzt richtig in Fahrt war. So gut, dass er seine Ehre daransetzte, den eigentlichen Exekutor bis ins letzte, grausame Detail zu kopieren.
Harry versuchte, seine eigenen Gedanken abzuwehren. Er wollte jetzt nicht wieder über Banküberfälle nachdenken. Oder über niedergeschossene Bankangestellte. Oder die Konsequenzen, wenn sich wirklich herausstellte, dass es zwei Exekutoren waren. Dass es möglich war, dass er wieder unter Ivarsson im Raubdezernat arbeiten und der Fall Ellen erneut verschoben werden musste.
Stopp. Heute nicht mehr nachdenken. Morgen.
Aber seine Beine führten ihn trotzdem in den Flur, wo seine Finger ganz wie von selbst Webers Handynummer wählten. »Hier ist Harry. Was habt ihr?«
»Wir haben Glück, das haben wir.« Weber hörte sich überraschend munter an. »Gute Jungs und Mädels haben zu guter Letzt doch immer Glück.«
»Das ist mir neu«, sagte Harry. »Lass hören.«
»Beate Lønn rief mich aus dem House of Pain an, während wir in der Filiale waren. Sie hatte gerade begonnen, das Video zu analysieren, als sie etwas Interessantes bemerkte. Der Täter hat sehr nah an der Plexiglasscheibe gestanden, als er gesprochen hat. Sie hat uns den Tipp gegeben, nach Spucke zu suchen. Es war erst eine halbe Stunde seit dem Überfall vergangen, so dass es durchaus noch realistisch war, etwas zu
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