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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Kopfschmerzen verschwanden.
    Er versuchte, die Geschehnisse zu rekonstruieren.
    Raskol, die Toilette in der U-Bahn-Station, der kleine, gedrungene, pfeifende Mann im abgetragenen Armani-Anzug, die ausgestreckte Hand mit den Goldringen, schwarze Haare und ein langer spitzer Fingernagel am kleinen Finger. »Hei, Harry, ich bin dein Freund Simon.« Und im scharfen Kontrast zu dem abgetragenen Anzug ein nagelneuer Mercedes mit einem Chauffeur, der aussah, als sei er der Bruder von Simon. Die gleichen braunen, munteren Augen und der gleiche haarige, goldgeschmückte Händedruck.
    Die zwei vorne im Wagen hatten losgeplaudert in einer Mischung aus Schwedisch und Norwegisch und mit dem seltsamen Tonfall der Zirkusartisten, Messerverkäufer, Prediger und Sänger von Tanzkombos. Aber viel hatten sie nicht gesagt. »Geht's gut, Freund?« »Wetter nicht gut, oder?« »Schöne Kleider, Freund, sollen wir tauschen?« Herzliches Lachen und das Klicken von Feuerzeugen. Ob Harry rauche? Russische Zigaretten, bitte sehr, garantiert übel, aber irgendwie auch gut, weißt du? Weiteres Gelächter. Raskol war nicht mit einem Wort erwähnt worden und auch nicht das Ziel ihrer Fahrt.
    Doch es stellte sich heraus, dass die Reise nicht lange dauerte.
    Hinter dem Munch-Museum bogen sie von der Straße ab und holperten über einen löchrigen Weg bis zu einem Parkplatz vor einem schlammigen, leeren Fußballplatz. Am Ende des Parkplatzes standen drei Wohnwagen. Zwei neue große und ein kleiner alter ohne Räder, der auf vier Ytongsteinen aufgebockt war.
    Die Tür von einem der großen Wagen ging auf und Harry sah die Silhouette einer Frau. Hinter ihr kamen die Köpfe einiger Kinder zum Vorschein. Harry zählte fünf.
    Harry sagte, er sei nicht hungrig, saß in einer Ecke des Wagens und sah den anderen beim Essen zu. Das Essen wurde von der Jüngsten der Frauen serviert und wurde schnell und ohne jede Zeremonie heruntergeschlungen. Die Kinder sahen Harry kichernd an und schubsten sich gegenseitig hin und her. Harry zwinkerte zurück und versuchte zu lächeln, während er spürte, wie langsam das Gefühl in seinen durchfrorenen Körper zurückkam. Was nicht bloß eine gute Neuigkeit war, denn es war die Rede von beinahe zwei Metern und jeder einzelne Zentimeter schmerzte. Anschließend hatte Simon ihm zwei Wolldecken gegeben, ihm freundlich auf die Schulter geklopft und in Richtung des kleinen Wohnwagens genickt. »Es ist nicht das Hilton, aber hier bist du sicher, mein Freund.«
    Was an Wärme in Harrys Körper zurückgefunden hatte, war schlagartig wieder verschwunden, als er den eierförmigen Kühlschrank von Wohnwagen betrat. Er hatte Øysteins Schuhe abgestreift, die mindestens eine Nummer zu klein waren, sich die Füße gerieben und dann versucht, in dem kurzen Bett Platz für seine Beine zu finden. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war sein Versuch, sich die nasse Hose auszuziehen.
    »Hihihi.«
    Harry öffnete wieder die Augen. Das kleine, braune Gesicht war verschwunden, und das Lachen kam jetzt von draußen, durch die offene Tür, durch die die Sonne freimütig hereinschien und die Wand mit den angehefteten Fotografien hinter ihm anstrahlte. Harry richtete sich auf die Ellenbogen auf und betrachtete die Bilder. Eines der Fotos zeigte zwei Jungen, Arm in Arm vor einem Wohnwagen, der aussah wie der, in dem er sich gerade befand. Sie sahen zufrieden aus. Nein, mehr als das. Sie sahen glücklich aus. Vielleicht gelang es Harry deshalb nur kaum, einen dieser Jungen als Raskol zu identifizieren.
    Harry schwang die Beine aus der Koje und entschloss sich, seine Kopfschmerzen zu ignorieren. Er blieb ein paar Sekunden sitzen, um sicherzugehen, dass sein Magen standhaft blieb. Er hatte schon schlimmere Eskapaden als die gestrige erlebt, viel schlimmere. Beim Essen am Abend zuvor war er kurz davor gewesen, nach Schnaps zu fragen, doch er hatte es unterlassen. Vielleicht vertrug sein Körper nach so langer Abstinenz den Alkohol wieder besser?
    Er bekam die Antwort, als er den Wohnwagen verlassen wollte.
    Die Kinder standen mit großen verwunderten Augen da, als Harry sich an der Deichsel festhielt und ins braune Gras kotzte. Er hustete und spuckte ein paar Mal und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Als er sich umdrehte, stand Simon mit breitem Grinsen hinter ihm, als sei Erbrechen am Morgen das Natürlichste von der Welt: »Essen, mein Freund?«
    Harry schluckte und nickte.
    Simon lieh Harry einen zerknitterten Anzug, ein sauberes Hemd

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