Die Fährte
zurückzuhalten.«
Er stand auf. »Mach deinen Vater stolz, Beate.«
Er fasste an die Klinke, als er Beate hinter sich schluchzen hörte. Er drehte sich um.
»Du verstehst nichts!«, schluchzte sie. »Ich dachte, ich könnte … ich dachte, das wäre eine Art … Abrechnung, nicht wahr?«
Harry blieb stehen. Dann schob er einen Stuhl dicht neben den ihren, setzte sich hin und legte seine Hand an ihre Wange. Ihre Tränen waren warm und zogen in seine raue Haut ein, während sie sprach. »Man geht doch zur Polizei, weil man eine gewisse Vorstellung von Ordnung hat, von einem Gleichgewicht der Dinge, nicht wahr? Abrechnung, Gerechtigkeit und so etwas. Und dann bekommst du plötzlich an einem Tag die Chance, eine Rechnung zu begleichen, von der du eigentlich bloß geträumt hast. Bloß um herauszufinden, dass das doch nicht das ist, was du willst.« Sie schniefte. »Meine Mutter sagte einmal, dass es bloß eine Sache gibt, die schlimmer ist, als seine Lust nicht gestillt zu bekommen. Und das ist, überhaupt keine Lust zu irgendetwas zu verspüren. Hass – das ist vielleicht das Letzte, was einem bleibt, wenn man alles verloren hat. Und dann nimmt man dir den auch noch.«
Sie fegte das Schulterhalfter mit dem Arm vom Tisch, so dass es an die Wand knallte.
Es war vollkommen dunkel, als Harry in der Sofies Gate stand und in einer etwas besser bekannten Jackentasche nach seinem Schlüssel suchte. Als er sich am Morgen im Präsidium gemeldet hatte, war es eine seiner ersten Handlungen gewesen, seine eigenen Kleider von der Kriminaltechnik zu holen, wohin sie aus dem Hause der Albus gebracht worden waren. Aber zu allererst war er in das Büro von Bjarne Møller gegangen. Der Dezernatsleiter hatte gesagt, dass die meisten Vorwürfe, was Harry anging, vom Tisch seien, doch dass sie abwarten müssten, ob es eine Anzeige wegen des Einbruchs im Harelabben 16 gab. Und dass im Laufe des Tages abgeklärt werden sollte, ob man darauf reagieren sollte, dass sich Harry am Abend von Anna Bethsens Tod bei ihr aufgehalten hatte, davon aber nichts gesagt hatte. Harry hatte angemerkt, dass er im Falle einer Untersuchung dieser Sache natürlich auch die Abmachung zwischen dem Polizeipräsidenten, Møller und ihm selbst zur Sprache bringen müsse, die ihm im Rahmen des Exekutor-Falles gewisse flexible Vollmachten einräumte, und dass sie ihre Tour nach Brasilien genehmigt hätten, obgleich keine brasilianischen Stellen informiert waren.
Bjarne Møller hatte mit einem schiefen Grinsen reagiert und gesagt, er gehe davon aus, dass niemand eine Untersuchung für nötig halten werde, tja, dass es vermutlich überhaupt keine Reaktionen geben werde.
Es war still im Treppenhaus. Harry riss die Absperrbänder vor seiner Tür weg. Eine Spanplatte saß an der Stelle des eingeschlagenen Glases.
Er blieb im Wohnzimmer stehen und sah sich um. Weber hatte ihm erklärt, dass sie vor der Durchsuchung Fotos von der Wohnung gemacht hatten, so dass alles wieder an seinen ursprünglichen Platz gestellt werden konnte. Trotzdem konnte er nicht umhin, die fremden Hände und Augen überall zu spüren. Es war nicht so, dass er viel in seiner Wohnung hatte, das kein Tageslicht vertrug – ein paar heftige, aber alte Liebesbriefe, ein geöffnetes Päckchen Kondome, deren Verfallsdatum sicher längst abgelaufen war, und ein Umschlag mit Bildern des Leichnams von Ellen Gjelten. Sicher konnte man es als pervers auffassen, so etwas in seiner Wohnung zu haben. Abgesehen davon: zwei Pornohefte, eine Bonnie-Tyler-Platte und ein Buch von Suzanne Bregger.
Harry blickte lange auf das rote, blinkende Licht am Anrufbeantworter, ehe er auf den Knopf drückte. Eine bekannte Jungenstimme füllte den fremden Raum. »Hei, wir sind's. Heute war das Urteil. Mama weint und will, dass ich es dir sage.«
Harry holte tief Luft, um bereit zu sein.
»Wir kommen morgen nach Hause.«
Harry hielt die Luft an. Hatte er richtig gehört? Wir kommen nach Hause?
»Wir haben gewonnen. Du hättest die Gesichter von Vaters Anwälten sehen sollen. Mama meinte, alle seien sicher gewesen, dass wir verlieren. Mama, willst du … nein, sie weint bloß. Jetzt gehen wir zu McDonald's feiern. Ich soll dich von Mama fragen, ob du uns abholen kommst. Tschüss.«
Er hörte Oleg in den Hörer atmen und jemanden im Hintergrund, der sich lachend die Nase putzte. Dann noch einmal Olegs Stimme, leiser: »Wär schön, wenn du kommst, Harry.«
Harry sank in den Sessel. Etwas viel zu Großes zerplatzte in
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