Die Fährte
Mann, der bereits am Tisch saß. Es war leicht zu sehen, dass dieser Mann kein Stammgast war. Nicht wegen der eleganten Tweedjacke oder der rot gepunkteten Fliege, sondern weil er in einer weißen Teetasse rührte, die auf einer bierparfürmierten, von Zigarettenkippen durchlöcherten Decke stand. Der zufällige Gast war der Psychologe Ståle Aune, einer der besten seines Fachs im ganzen Land und ein Spezialist, auf dessen Fähigkeiten die Osloer Polizei gerne zurückgriff. Der ihr aber auch manches Mal Sorgen bereitete, denn Aune war ein durch und durch redlicher Mann, dem seine Integrität am Herzen lag und der sich niemals zu einer Rechtssache äußerte, wenn er nicht hundertprozentige, wissenschaftliche Beweise hatte. Und da es in der Psychologie nur selten Beweise für irgendetwas gab, kam es oft dazu, dass er als Zeuge der Staatsanwaltschaft der beste Freund der Verteidigung wurde, da der Zweifel, den er verbreitete, in der Regel dem Angeklagten zugute kam. Als Polizist hatte Harry Aunes Expertisen bei Mordfällen so häufig in Anspruch genommen, dass er ihn inzwischen als Kollegen betrachtete. Und als Alkoholiker hatte er sich diesem warmherzigen, klugen und sorgsam distanzierten Mann dermaßen vollkommen ausgeliefert, dass er ihn – in einem Augenblick stärksten Drucks – sogar als Freund bezeichnet hatte.
»Soso, das ist also dein Zufluchtsort?«, fragte Aune.
»Ja«, sagte Harry und gab Maja hinter dem Tresen mit seinen Augenbrauen ein Zeichen, woraufhin diese sogleich durch die Schwingtür in die Küche verschwand.
»Und was hast du da?«
»Japone. Chili.«
Ein Schweißtropfen rann über Harrys Nasenrücken, klammerte sich einen Augenblick lang an seiner Nasenspitze fest, ehe er herabfiel und auf der Tischdecke landete. Aune blickte verwundert auf den kleinen, nassen Fleck.
»Träger Thermostat«, sagte Harry. »Ich komme vom Training.«
Aune rümpfte die Nase. »Als Mediziner sollte ich wohl applaudieren, doch als Philosoph stelle ich es durchaus in Frage, seinen Körper einem derartigen Unbehagen auszusetzen.«
Eine stählerne Kanne und ein Becher wurden vor Harry gestellt. »Danke, Maja.«
»Schuldgefühle«, sagte Aune. »Manch einer kommt damit nur zurecht, indem er sich selbst quält. So wie bei dir, wenn du die Kontrolle verlierst, Harry. In deinem Fall ist der Alkohol keine Flucht, sondern die ultimative Art, dich selbst zu bestrafen.«
»Herzlichen Dank, diese Diagnose habe ich schon mal von dir bekommen.«
»Trainierst du deshalb so hart? Schlechtes Gewissen?«
Harry zuckte mit den Schultern.
Aune senkte die Stimme. »Denkst du noch immer an Ellen?«
Harrys Blick zuckte nach oben und begegnete dem von Aune. Er führte die Kaffeetasse langsam an seine Lippen und trank lange, ehe er sie wieder mit einer Grimasse auf den Tisch stellte. »Nein, es ist nicht die Ellen-Sache. Wir kommen nicht weiter, aber nicht, weil wir schlechte Arbeit gemacht haben, das weiß ich. Etwas wird auftauchen, wir müssen nur Geduld haben.«
»Gut«, sagte Aune. »Ellens Tod war nicht deine Schuld, denk immer daran. Und vergiss nicht, dass alle deine Kollegen der Meinung sind, dass der richtige Täter gefasst worden ist.«
»Vielleicht. Vielleicht nicht. Er ist tot und kann uns keine Antwort mehr geben.«
»Lass das nicht zu einer fixen Idee werden, Harry.« Aune steckte zwei Finger in die Tasche seiner Tweedjacke und zog eine silberne Uhr heraus, auf die er einen kurzen Blick warf. »Aber du wolltest sicher nicht über Schuldgefühle sprechen.«
»Nein.« Harry zog einen Stapel Bilder aus seiner Innentasche. »Ich will wissen, was du davon hältst.«
Aune nahm die Fotografien und begann zu blättern. »Sieht wie ein Banküberfall aus. Ich dachte, mit so etwas hättet ihr in eurem Dezernat nichts zu tun?«
»Die Erklärung findest du auf dem nächsten Bild.«
»Ach ja? Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Kamera.«
»Sorry, dann halt das nächste.«
»Oje. Wurde sie …?«
»Ja, du siehst kein Mündungsfeuer, weil das ein AG3 ist, aber er hat gerade abgedrückt. Wie du siehst, ist die Kugel gerade in die Stirn der Frau eingedrungen. Auf dem nächsten Bild ist sie aus dem Hinterkopf wieder heraus und in das Holz neben dem Schalterglas geschlagen.«
Aune legte den Stapel zur Seite. »Warum müsst ihr mir immer diese grausamen Bilder zeigen, Harry?«
»Du weißt also, wovon wir sprechen. Sieh dir das nächste Bild an.«
Aune seufzte.
»Zu diesem Zeitpunkt hat der Räuber sein Geld schon
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