Die Fährte
er Eimers ausgesuchte Lektüre studierte, erkannte er, wie wenige Interessen er mit dem norwegischen Durchschnittsmann teilte.
War das so, weil er keine mehr hatte? Musik, doch, aber in den letzten zehn Jahren war nichts Gutes mehr auf den Markt gekommen, nicht einmal von den alten Helden. Film? Wenn er heute einmal aus dem Kino kam, ohne sich gehirnamputiert zu fühlen, konnte er froh sein. Ansonsten Fehlanzeige. Mit anderen Worten: Das Einzige, was ihn noch immer interessierte, war, Menschen zu finden und sie einzusperren. Und nicht einmal das ließ sein Herz so schnell schlagen wie früher. Das Unheimliche … , dachte Harry und legte eine Hand auf Eimers kalten, glatten Tresen, das Unheimliche daran war, dass ihn dieser Umstand überhaupt nicht störte. Dass er kapituliert hatte. Dass es einfach nur befreiend war, alt zu werden.
Erneut klingelte die Glocke zornig.
»Ich hab vergessen, dir von diesem Jugendlichen zu erzählen, den wir gestern wegen unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen haben«, sagte Halvorsen. »Roy Kvinsvik, einer der Glatzköpfe von Herbert's Pizza.« Er stand in der Tür, während der Regen um seine nassen Schuhe herumtanzte.
»Hm?«
»Er hatte ganz offensichtlich Angst, und deshalb habe ich ihm gesagt, dass er mir schon etwas geben müsse, mit dem ich etwas anfangen könnte, wenn ich ihn einfach so davonkommen lassen sollte.«
»Und?«
»Er hat gesagt, dass er Sverre Olsen in Grünerløkka gesehen hat, an dem Abend, an dem Ellen getötet wurde.«
»Ja und? Dafür gibt es mehrere Zeugen.«
»Ja, aber dieser Typ hat Olsen in einem Auto mit jemandem sprechen sehen.«
Harry fiel die Zigarette aus der Hand. Er ließ sie liegen.
»Wusste er, wer das war?«, fragte er langsam.
Halvorsen schüttelte den Kopf. »Nein, er hat nur Olsen erkannt.«
»Hat er dir eine Beschreibung gegeben?«
»Er erinnerte sich nur noch an seinen Gedanken, dass der Typ wie ein Polizist ausgesehen hat. Aber er meinte, dass er ihn vielleicht wiedererkennen würde.«
Harry spürte, wie es ihm unter seinem Mantel heiß wurde. Er betonte jedes einzelne Wort: »Konnte er dir sagen, was für ein Auto es war?«
»Nein, er ist bloß vorbeigerannt.«
Harry nickte, während er mit der Hand immer wieder über den Tresen strich.
Halvorsen räusperte sich: »Aber er meinte, es sei ein Sportwagen gewesen.«
Harry blickte auf die am Boden qualmende Zigarette. »Farbe?«
Halvorsen machte eine bedauernde Geste mit dem Arm.
»War es rot?«, fragte Harry mit leiser, belegter Stimme.
»Was hast du gesagt?«
Harry richtete sich auf. »Nichts. Merk dir den Namen. Und geh nach Hause zu deinem Leben.« Die Glocke klingelte.
Harry hörte auf, den Tisch zu streicheln, und ließ die Hand einfach liegen. Der Tisch fühlte sich auf einmal wie kalter Marmor an.
Astrid Monsen war 45 Jahre alt und lebte von der Übersetzung französischer Belletristik im Büro in ihrer Wohnung in der Sorgenfrigata. In ihrem Leben gab es keinen Mann, aber ein Tonband mit Hundegebell, das jede Nacht in einer Endlosschleife vor der Wohnungstür abgespielt wurde. Harry hörte ihre Schritte hinter der Tür, und dann schepperte es mindestens in drei Schlössern, ehe sich die Tür einen Spaltbreit öffnete und ein kleines sommersprossiges Gesicht unter dunklen Locken zum Vorschein kam.
»Huch«, rief sie aus, als sie Harrys große Gestalt erblickte.
Obgleich ihm das Gesicht nicht bekannt war, hatte er unmittelbar das Gefühl, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich aufgrund Annas ausführlicher Beschreibung ihrer ängstlichen Nachbarin.
»Harry Hole vom Dezernat für Gewaltverbrechen«, sagte er und zeigte ihr seinen Ausweis. »Tut mir Leid, dass ich so spät am Nachmittag noch stören muss. Ich habe noch ein paar Fragen zu dem Abend, an dem Anna Bethsen gestorben ist.«
Er versuchte, beruhigend zu lächeln, als er bemerkte, dass sie Schwierigkeiten hatte, den Mund zu schließen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Gardine hinter der Scheibe der Nachbartür bewegte.
»Kann ich einen Moment hereinkommen, Frau Monsen? Es dauert nicht lang.«
Astrid Monsen wich zwei Schritte zurück, und Harry nutzte die Gelegenheit, um durch die Tür zu schlüpfen und sie hinter sich zu schließen. Jetzt durfte er ihre ganze Afrofrisur bewundern. Sie musste ihre Haare schwarz gefärbt haben, sie umrahmten ihren kleinen, weißen Kopf wie ein gewaltiger Globus. In dem sparsam beleuchteten Flur blieben sie dicht voreinander stehen. An den
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