Wänden hingen Trockenblumen und ein eingerahmtes Plakat aus dem Chagall-Museum in Nizza.
»Haben Sie mich schon einmal gesehen?«, fragte Harry.
»Wie … meinen Sie?«
»Bloß, ob Sie mich schon einmal gesehen haben? Das andere kommt noch.«
Ihr Mund öffnete und schloss sich. Dann schüttelte sie hart den Kopf.
»Gut«, sagte Harry. »Waren Sie Dienstagabend zu Hause?«
Sie nickte zögerlich.
»Haben Sie etwas gehört oder gesehen?«
»Nein«, sagte sie. Etwas zu schnell, wie Harry fand.
»Nehmen Sie sich Zeit und denken Sie nach«, sagte er und versuchte freundlich zu lächeln, was aber nicht gerade zum besttrainierten Teil seines begrenzten Repertoires an Gesichtsausdrücken gehörte.
»Überhaupt …«, sagte sie, während ihr Blick zur Tür hinter Harry huschte, »nichts.«
Harry zündete sich draußen auf der Straße eine Zigarette an. Er hatte gehört, wie Astrid Monsen die Sicherheitskette befestigt hatte, kaum dass er die Wohnung verlassen hatte. Arme Frau. Sie war die Letzte der Runde, woraus er schließen konnte, dass ihn niemand im Haus an dem Abend, an dem Anna gestorben war, im Flur gesehen oder gehört hatte.
Nach zwei Zügen warf er die Zigarette weg.
Zu Hause blieb er in seinem Ohrensessel sitzen und sah lange auf das rote Blinken des Anrufbeantworters, ehe er die Play-Taste drückte. Es war Rakel, die ihm Gute Nacht wünschte, und ein Journalist, der einen Kommentar zu den beiden Überfällen wollte. Danach spulte er das Band zurück und hörte sich Annas Nachrichten noch einmal an: Und kannst du nicht die Jeans anziehen, du weißt schon, die, die ich so gerne mochte?
Er rieb sich das Gesicht. Dann nahm er das Band heraus und warf es in den Mülleimer.
Draußen tropfte der Regen und drinnen zappte Harry. Damenhandball, eine Seifenoper und ein Quiz, bei dem man Millionär werden konnte. Harry blieb bei einem schwedischen Sender hängen, auf dem ein Sozialanthropologe und ein Philosoph den Rachebegriff diskutierten. Der eine vertrat die Meinung, dass ein Land wie die USA, das für moralische Werte wie Freiheit und Demokratie einsteht, die moralische Verantwortung habe, Angriffe auf ihr Territorium zu verteidigen, weil es sich dabei auch um Angriffe auf eben jene Werte handele.
»Nur das Versprechen der Vergeltung – und deren Durchführung – kann ein so verwundbares System wie eine Demokratie schützen.«
»Was, wenn die Werte, für die eine Demokratie steht, selbst die Opfer einer Racheaktion werden?«, erwiderte der andere. »Was, wenn das Recht einer anderen Nation nach internationaler Gesetzgebung gebrochen wird? Was für Werte sind das, die man verteidigt, wenn man unschuldige Zivilisten auf der Jagd nach den Schuldigen zu Rechtlosen macht? Und was ist mit der moralischen Regel, die besagt, dass du die andere Wange hinhalten sollst?«
»Das Problem ist«, sagte der andere lächelnd, »dass man nur zwei Wangen hat, nicht wahr?«
Harry schaltete aus. Er fragte sich, ob er Rakel anrufen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es schon zu spät war. Er versuchte ein wenig in einem Jim-Thompson-Buch zu lesen, bemerkte dann aber, dass die Seiten 24 bis 38 fehlten. Dann stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Öffnete den Kühlschrank und starrte ziellos auf einen Käse und ein Glas Erdbeermarmelade. Er hatte Lust auf etwas, wusste aber nicht, auf was. Schließlich warf er die Kühlschranktür wieder zu. Wen wollte er eigentlich verarschen? Er hatte Lust auf einen Drink.
Um zwei Uhr in der Nacht wachte er, noch immer angezogen, im Sessel auf. Er stand auf, ging ins Bad und trank ein Glas Wasser.
»Scheiße«, sagte er zu seinem Spiegelbild. Er ging ins Schlafzimmer und schaltete den PC an. Im Internet fand er 104 Artikel über Selbstmord, aber keinen über Rache, nur Stichworte und viele Hinweise zu Rachemotiven in der Literatur und der griechischen Mythologie. Als er den Computer ausschalten wollte, fiel ihm ein, dass er schon seit ein paar Wochen seine Mails nicht mehr gecheckt hatte. Er hatte zwei Nachrichten erhalten. Die eine war vom Netzbetreiber und informierte über eine Störung von vor vierzehn Tagen. Die andere trug den Absender
[email protected]. Er klickte auf das Symbol und las die Nachricht: Hi, Harry. Denk an die Schlüssel. Anna. Der Absendezeitpunkt verriet ihm, dass sie die Mail zwei Stunden vor ihrem letzten Treffen abgeschickt hatte. Er las die Nachricht noch einmal. So kurz. So … normal. Die Menschen schickten sich wohl solche Mails, nahm er an. Hi,