Die Fährte
Fahrer und Beate hörten Harry laut fluchen. Dann war lange Zeit ein hektisches Kramen zu hören und schließlich ein neuerliches
»Jawoll!«, ehe er wieder am Rand des Containers auftauchte und die weiße Plastiktüte wie eine Trophäe über den Kopf hielt.
»Bring Weber sofort die Flasche und sag ihm, dass es eilt«, sagte Harry, während Beate den Motor anließ. »Grüß ihn von mir.«
»Hilft das?«
Harry kratzte sich am Kopf. »Nein, sag ihm bloß, dass es eilt.«
Sie lachte. Kurz und wenig herzlich, aber Harry musste feststellen, dass sie gelacht hatte.
»Setzt du dich immer so ein?«, fragte sie.
»Ich? Und was ist mit dir? Du hättest uns mit diesem Auto fast umgebracht, um die Beweise zu sichern, nicht wahr?«
Sie lächelte, gab aber keine Antwort. Dann blickte sie lange in den Rückspiegel, ehe sie in die Straße einbog.
Harry blickte unvermittelt auf die Uhr. »Verflucht!«
»Zu spät zu einer Verabredung?«
»Könntest du mich vielleicht zur Majorstua-Kirche fahren?«
»Natürlich. Ist das die Erklärung für deinen dunklen Anzug?«
»Ja, ein … Freund von mir.«
»Dann solltest du vielleicht vorher sehen, dass du diesen braunen Fleck an deiner Schulter weg bekommst.«
Harry drehte den Kopf zur Seite. »Vom Container«, sagte er und begann zu bürsten. »Ist er jetzt weg?«
Beate reichte ihm ein Taschentuch. »Versuch es mit ein bisschen Spucke. Ein naher Freund?«
»Nein, oder doch … Eine Zeit lang, vielleicht. Aber man geht ja auf so Beerdigungen.«
»Tut man das?«
»Etwa nicht?«
»Ich war in meinem ganzen Leben bloß auf einer einzigen Beerdigung.«
Sie fuhren eine ganze Weile schweigend weiter.
»Dein Vater?«
Sie nickte.
Sie passierten das Sinsenkrysset. Am Muselund, der großen Grünfläche unterhalb von Haraldsheim, ließen ein Mann und zwei Jungs einen Drachen steigen. Alle drei blickten in den blauen Himmel, und Harry sah gerade noch, wie der Mann dem größeren der Jungen die Schnur in die Hand gab.
»Wir haben den Täter noch nicht gefunden«, sagte sie.
»Nein, das haben wir nicht«, erwiderte Harry, »noch nicht.«
»Gott gibt und Gott nimmt«, sagte der Pastor und ließ seinen Blick über die leeren Bankreihen und den großen, kurzhaarigen Mann schweifen, der sich soeben durch die Tür geschlichen hatte und jetzt auf der hintersten Bank einen Platz suchte. Er wartete, während das Echo eines hohen, herzzerreißenden Schluchzers unter der gewölbten Decke erstarb.
»Doch manchmal bekommt man den Eindruck, Er würde nur nehmen.«
Der Pastor betonte das letzte Wort, und es wurde von der Akustik ergriffen und nach hinten in die Kirche getragen. Das Schluchzen wurde wieder lauter. Harry blickte sich um. Er hatte geglaubt, dass Anna, die so extrovertiert und lebhaft gewesen war, viele Freunde hatte, doch Harry zählte nur acht Menschen, sechs in der ersten Reihe und zwei weiter hinten. Acht. Na ja. Wie viele würden zu seiner eigenen Beerdigung kommen? Acht war vielleicht gar nicht so schlecht.
Das Schluchzen kam aus der ersten Reihe, in der Harry drei Köpfe mit bunten Kopftüchern sah und drei kahlköpfige Männer. Bei den anderen zwei Anwesenden handelte es sich um einen Mann, der links saß, und eine Frau am Mittelgang. Er erkannte die globusförmige Afrofrisur von Astrid Monsen.
Orgelpedale knirschten und dann begann die Musik. Ein Psalm. Gottes Gnade. Harry schloss die Augen und spürte, wie müde er war. Die Orgeltöne stiegen und sanken, und die hohen Töne rieselten wie Wasser von der Decke. Die dünnen Stimmen sangen von Vergebung und Erbarmen. Er wäre am liebsten in etwas versunken, in etwas, das ihn wärmen und verstecken konnte. Der Herr soll richten über die Lebenden und die Toten. Gottes Rache, Gott als Nemesis. Die Töne der unteren Register ließen die leeren Holzbänke vibrieren. Das Schwert in der einen, die Waage in der anderen Hand, Rache und Gerechtigkeit. Oder ungerächt und ungerecht. Harry öffnete die Augen.
Vier Männer trugen den Sarg. Harry erkannte den Polizeibeamten Ola Li hinter zwei dunklen Männern mit abgetragenen Armani-Anzügen und weißen Hemden, deren oberste Knöpfe offen standen. Die vierte Person war so groß, dass der Sarg schief stand. Der Anzug schlotterte ihm um den dürren Körper, doch dieser Mann schien der Einzige der vier zu sein, der nicht unter dem Gewicht des Sarges litt. Besonders das Gesicht des Mannes faszinierte Harry. Schmal, dezent geformt, mit großen, braunen, leidenden Augen in tiefliegenden
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