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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Augenhöhlen. Die schwarzen Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz zusammengefasst, so dass die hohe, blanke Stirn bloßlag. Der gefühlvolle, herzförmige Mund war von einem langen, aber gepflegten Bart umrahmt. Beinahe schien es, als sei die Christusgestalt selbst vom Altar hinter dem Pastor herabgestiegen. Und noch etwas fiel auf, etwas, das man nur in wenigen Fällen sagen kann: Sein Gesicht strahlte. Während die vier Männer durch den Mittelgang auf Harry zukamen, versuchte er zu erkennen, was dieses Strahlen ausmachte. War es die Trauer? Sicher keine Freude. Güte? Bosheit?
    Ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment, als sie vorbeigingen. Hinter ihnen folgte Astrid Monsen mit niedergeschlagenen Augen, dann ein Mann mittleren Alters mit Buchhaltergesicht und drei Frauen, zwei ältere und eine jüngere mit bunten Kleidern. Sie schluchzten und klagten laut, verdrehten die Augen und schlugen die Hände zusammen. Harry blieb stehen, während das kleine Gefolge die Kirche verließ.
    »Komisch, diese Zigeuner, nicht wahr, Hole?«
    Die Worte hallten durch die Kirche. Harry drehte sich um. Es war Ivarsson, der lächelnd in einem schwarzen Anzug und mit einem Schlips um den Hals hinter ihm stand.
    »Als ich klein war, hatten wir einen Gärtner, der Zigeuner war. Ursarier, die sind mit tanzenden Bären herumgereist, wissen Sie. Er hieß Josef. Immer nur Musik und Possen. Aber beim Tod, sehen Sie … Diese Menschen haben ein noch komplizierteres Verhältnis zum Tod als wir. Sie haben eine Sterbensangst vor den Mulen – den Toten. Sie glauben, dass sie zu Geistern werden. Josef ist immer zu einer Frau gegangen, die sie verjagen sollte, das können wohl nur Frauen. Kommen Sie.«
    Ivarsson ergriff Harrys Arm, der sich zusammenreißen musste, um nicht dem Impuls zu folgen, ihn abzuschütteln. Sie traten auf die Kirchentreppe. Der Straßenlärm vom Kirkevei übertönte die Glocken. Ein schwarzer Cadillac mit offener Heckklappe erwartete das Gefolge in der Schønings Gate.
    »Sie bringen den Sarg nach oben ins Vestre-Krematorium«, sagte Ivarsson. »Das Verbrennen ist einer dieser Hindubräuche, die sie aus Indien mitgebracht haben. In England verbrennen sie auch den Wohnwagen des Toten, nur die Witwe dürfen sie jetzt nicht mehr mit verbrennen.« Er lachte. »Aber wichtige Besitztümer dürfen sie mitnehmen. Josef erzählte einmal, dass die Zigeunerfamilie eines Sprengmeisters in Ungarn das restliche Dynamit mit in den Sarg gepackt und so das ganze Krematorium mit in die Luft gejagt habe.«
    Harry holte sein Camel-Päckchen heraus.
    »Ich weiß, warum Sie hier sind, Hole«, sagte Ivarsson immer noch lächelnd. »Sie wollten sehen, ob sich nicht eine Gelegenheit finden würde, ein paar Worte mit ihm zu sprechen, nicht wahr?« Ivarsson nickte in Richtung der Sargträger und der großen, dünnen Gestalt, die langsam voranschritt, während die anderen trippelnd Schritt zu halten versuchten.
    »Ist das dieser Raskol?«, fragte Harry und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
    Ivarsson nickte. »Er ist ihr Onkel.«
    »Und die anderen?«
    »Angeblich Bekannte.«
    »Und die Familie?«
    »Sie bekennen sich nicht zu der Toten.«
    »Was?«
    »Das ist Raskols Version. Zigeuner sind notorische Lügner, doch was er sagt, stimmt gut mit den Geschichten überein, die Josef über ihre Art zu denken erzählt hat.«
    »Und das wäre?«
    »Dass die Ehre der Familie über alles geht. Deshalb wurde sie ausgestoßen. Raskol sagte, sie sei mit vierzehn an einen dieser griechischsprachigen Gn'ngo-Zigeuner in Spanien verheiratet worden, sei dann aber noch vor Vollzug der Ehe mit einem Gadzo abgehauen.«
    »Gadzo?«
    »Einem Nicht-Zigeuner. Einem dänischen Seemann. Das Schlimmste, was man tun kann. Schande für die ganze Familie.«
    »Hm.« Die unangezündete Zigarette wippte beim Sprechen an Harrys Lippen. »Sie haben diesen Raskol wohl schon gut kennen gelernt?«
    Ivarsson wedelte imaginären Tabaksqualm weg. »Wir haben miteinander gesprochen. Vorpostengefechte würde ich das nennen. Die substanziellen Gespräche folgen, nachdem wir unseren Teil des Abkommens eingehalten haben, also nachdem er an dieser Beerdigung teilnehmen durfte.«
    »Bis jetzt hat er also nicht viel gesagt?«
    »Nichts, was für die Ermittlungen von Bedeutung wäre, nein. Aber die Stimmung war gut.«
    »So gut, dass die Polizei mithilft, seine Verwandten ins Grab zu tragen?«
    »Der Pastor hat darum gebeten, dass einer von uns, Li oder ich, mithilft, den

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