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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Menschen ringsherum sind aus Marmor. Sie öffnet den Mund. Er sieht ihr Gesicht über dem Lauf, der auf ihre Zähne drückt.
    »Wie falsch?«
    »Sie … sie stehen zu nah beieinander.«
    »Bravo, Harry!«
    Er öffnete die Augen. Es funkelte und amöbenartige Formen zogen über sein Blickfeld.
    »Bravo?«, murmelte er. »Was meinst du?«
    »Es ist dir gelungen, das auszudrücken, was wir die ganze Zeit gesehen haben. Das ist nämlich vollkommen richtig, Harry. Sie stehen zu nah beieinander.«
    »Ja, ich hab gehört, was ich gesagt habe. Aber zu nah im Vergleich zu was?«
    »Im Vergleich dazu, wie nah Menschen, die sich noch nie begegnet sind, beieinander stehen.«
    »Oh?«
    »Hast du schon mal von Edward Hall gehört?«
    »Nicht viel.«
    »Ein Anthropologe. Er war der Erste, der den Zusammenhang aufzeigte zwischen der räumlichen Distanz, die zwei Menschen beim Sprechen wahren, und ihrem Verhältnis. Es gibt eine klare Beziehung.«
    »Sag schon.«
    »Bei Menschen, die sich nicht kennen, beträgt der Abstand ein bis dreieinhalb Meter. Das ist die Distanz. Diesen Abstand hält man ein, wenn die Situation es eben zulässt. Denk nur an die Warteschlange an Bushaltestellen oder vor einem Pissoir. In Tokyo ist man großzügig und steht etwas näher beieinander, aber die Variationen zwischen den unterschiedlichen Kulturen sind eigentlich ziemlich klein.«
    »Er kann ihr doch nicht aus mehr als einem Meter zuflüstern.«
    »Nein, aber er könnte das ohne Probleme im Rahmen der persönlichen Distanz, die sich auf 45 Zentimeter bis zu einem Meter bewegt. Diesen Abstand halten Menschen zu Freunden oder so genannten Bekannten ein. Aber wie du siehst, unterschreiten der Exekutor und Stine Grette diese Grenze. Ich habe den Abstand vermessen, er beträgt nur zwanzig Zentimeter. Das heißt, sie bewegen sich im Bereich der Intimdistanz. Dann ist man so nah, dass man nicht mehr das ganze Gesicht seines Gegenüber fokussieren kann und die Körperwärme und den Geruch des anderen wahrnimmt. Das ist eine Distanz, die für Partner oder Familie reserviert ist.«
    »Hm«, sagte Harry. »Dein Wissen beeindruckt mich, aber das sind zwei Menschen in einer äußerst dramatischen Situation.«
    »Ja, aber das ist ja das Faszinierende!«, platzte Beate heraus und umklammerte die Armlehnen des Stuhles, um nicht davonzuschweben. »Wenn sie nicht müssen, würden Menschen niemals diese Grenzen unterschreiten, von denen Edward Hall spricht. Und Stine Grette und der Exekutor müssen nicht!«
    Harry rieb sich das Kinn. »O.K., spinnen wir den Gedanken mal weiter.«
    »Ich glaube, dass der Exekutor und Stine Grette sich kannten«, sagte Beate. »Gut.«
    »Gut, gut.« Harry legte das Gesicht in seine Hände und sprach durch die Finger. »Stine kannte also einen professionellen Bankräuber, der einen perfekten Raub begeht, ehe er sie erschießt. Du weißt, wohin uns eine solche Schlussfolgerung führt, nicht wahr?«
    Beate nickte. »Ich werde sofort überprüfen, was wir über Stine Grette herausfinden können.«
    »Gut. Und anschließend unterhalten wir uns mal mit jemandem, der sich häufig innerhalb ihrer Intimdistanz aufgehalten hat.«
     

 
     
     

    Kapitel 18 – Ein schöner Tag
     
    »Hier krieg ich das kalte Grausen«, sagte Beate.
    »Die hatten hier mal einen bekannten Patienten namens Arnold Juklered«, sagte Harry. »Er hat gesagt, dies hier sei der Kopf der Bestie Psychiatrie. Du hast also nichts über Stine Grette gefunden?«
    »Nein. Blitzblanker Lebenslauf und auch ihre Bankkonten deuten nicht auf wirtschaftliche Probleme hin. Kein häufiger Kreditkartengebrauch in Boutiquen oder Restaurants. Keine Auszahlungen auf der Trabrennbahn oder andere Anzeichen von Spielsucht. Das Extravaganteste, was ich finden konnte, war eine Reise nach São Paulo im Sommer.«
    »Und ihr Mann?«
    »Genau das Gleiche. Solide und nüchtern.«
    Sie traten unter das Portal des Gaustadklinik und kamen auf den Platz zwischen den großen, roten Backsteingebäuden.
    »Erinnert an ein Gefängnis«, sagte Beate.
    »Heinrich Schirmer«, sagte Harry. »Deutscher Architekt aus dem 19. Jahrhundert. Das ist der Gleiche, der das Botsen entworfen hat.«
    Ein Pfleger holte sie an der Rezeption ab. Er hatte schwarz gefärbte Haare und hätte von seinem Äußeren her eher in einer Band spielen sollen oder etwas mit Design zu tun haben.
    Was er de facto auch tat. »Grette sitzt die meiste Zeit über am Fenster und starrt nach draußen«, sagte er, während er über den Flur zur

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