Die Fährte
wieder mit dem Auto mit. Vier Tage später wachte ich im Morgengrauen auf und betrachtete Stefan. Er war die ganze Nacht weg gewesen. Er schlief wie immer mit halb offenen Augen und ich sah seinen Atem grauweiß in der kalten Morgenluft. In seinen Haaren war Blut und seine Lippe war geschwollen. Ich nahm meine Wolldecke mit und ging zum Hauptbahnhof, wo eine Familie Kalderas-Zigeuner vor den Toiletten ihr Lager aufgeschlagen hatte, während sie darauf warteten, nach Westen zu kommen. Ich sprach mit dem Ältesten der Jungen. Er erzählte mir, dass der Mann, den wir für einen Schlepper hielten, bloß ein normaler Junkie sei, der sich immer in der Nähe des Bahnhofs aufhielt. Er hatte seinem Vater dreißig Zloty angeboten, damit dieser ihm die beiden jüngsten Jungen mitgab. Ich zeigte dem Jungen meine Decke. Sie war dick und gut, ich hatte sie von einer Wäscheleine in Lubli gestohlen. Er mochte sie. Es war bald Dezember. Ich bat darum, sein Messer sehen zu dürfen. Er trug es unter dem Hemd.«
»Woher wussten Sie, dass er ein Messer hatte?«
»Alle Zigeuner haben ein Messer. Um damit zu essen. Nicht einmal Familienmitglieder teilen sich ihr Besteck, das könnte mahrine – ansteckend – sein. Aber er machte einen guten Tausch. Sein Messer war klein und stumpf. Zum Glück konnte ich es in der Schmiede der Eisenbahnwerkstatt schleifen.«
Raskol strich sich mit dem langen, spitzen Nagel seines rechten kleinen Fingers über den Nasenrücken.
»Als sich Stefan am gleichen Abend wieder ins Auto gesetzt hatte, fragte ich den Junkie, ob er auch für mich einen Kunden habe. Er grinste und sagte, ich solle einfach warten. Als er zurückkam, stand ich im Schatten unter der Brücke und beobachtete die Züge, die über das Bahnhofsgelände fuhren. ›Komm, sinti ‹, rief er. ›Ich habe einen guten Kunden, einen reichen Parteifunktionär. Komm jetzt, wir haben wenig Zeit!‹ Ich antwortete: ›Wir müssen noch auf den Zug aus Krakau warten.‹ Er kam zu mir herüber und ergriff meinen Arm. ›Du hast jetzt zu kommen, verstehst du?‹ Ich reichte ihm bis an die Brust. ›Da kommt er‹, sagte ich und zeigte nach vorn. Er ließ mich los und blickte auf. Es war eine schwarze Karawane stählerner Waggons, die an uns vorbeirollten und uns mit bleichen Gesichtern anstarrten. Dann kam das, auf das ich gewartet hatte. Das Kreischen von Stahl auf Stahl, als die Bremsen zu wirken begannen. Das übertönt alles.«
Harry kniff die Augen zusammen, als könne ihm das helfen, einzuschätzen, ob Raskol log.
»Als die letzten Waggons langsam vorbeirollten, sah ich das Gesicht einer Frau, die mich durch eines der Fenster anstarrte. Es sah aus wie ein Geistergesicht. Es ähnelte dem Gesicht meiner Mutter. Ich hob das blutige Messer hoch und zeigte es ihr. Und wissen Sie was, Spiuni? Das war der einzige Augenblick in meinem Leben, in dem ich vollkommen glücklich war.« Raskol schloss die Augen, wie um diesen Moment noch einmal zu erleben. »Koke per Koke, Kopf für Kopf. Das ist der albanische Ausdruck für Blutrache. Das ist der beste und gefährlichste Rausch, den Gott den Menschen gegeben hat.«
»Was ist danach geschehen?«
Raskol öffnete die Augen wieder. »Wissen Sie, was baxt ist, Spiuni?«
»Keine Ahnung.«
»Das Schicksal. Glück und Karma. Das ist es, was unsere Leben steuert. Als ich die Geldbörse des Junkies an mich nahm, waren da 3000 Zloty drin. Stefan kam zurück, und wir trugen die Leiche über die Schienen und warfen sie in einen der Güterwaggons, die Richtung Osten sollten. Dann gingen wir nach Norden. Zwei Wochen später schlichen wir uns in Danzig an Bord eines Schiffes, das uns nach Göteborg brachte. Von dort aus kamen wir nach Oslo. Wir kamen zu einer Wiese in Tøyen, auf der vier Wohnwagen standen. In dreien davon wohnten Zigeuner. Der vierte war alt, hatte eine kaputte Achse und war stehen gelassen worden. Über fünf Jahre wurde daraus Stefans und mein Heim. Dort feierten wir unter der einen Decke, die uns geblieben war, am Weihnachtsabend meinen neunten Geburtstag mit Keksen und einem Glas Milch. Am ersten Weihnachtstag begingen wir unseren ersten Einbruch in einem Kiosk und erkannten, dass wir an den richtigen Ort gelangt waren.« Raskol lächelte breit. »Das war wie Kindern ihre Süßigkeiten wegnehmen.«
Eine Weile blieben sie schweigend sitzen.
»Sie sehen immer noch aus, als glaubten Sie mir nicht recht«, sagte Raskol schließlich.
»Hat das etwas zu sagen?«, fragte Harry.
Raskol lächelte.
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