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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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werden dürften, da die Art, wie sie lebten, verboten sei. 1725 erging in Preußen der Erlass, alle Zigeuner über 18 Jahre ohne Gerichtsverfahren hinzurichten, doch später änderte man dieses Gesetz – man senkte die Altersgrenze auf vierzehn Jahre. Vier von Vaters fünf Brüdern starben in Gefangenschaft. Nur einer von ihnen im Krieg. Soll ich weitermachen?«
    Harry schüttelte den Kopf.
    »Aber auch das ist ein logisch geschlossener Kreis«, sagte Raskol. »Der Grund, weshalb wir verfolgt werden, ist der gleiche, weshalb wir überlebt haben. Wir sind – und wollen – anders sein. Genauso selten, wie wir ins Warme gelassen werden, gelangen Gadzoes in unsere Gemeinschaft. Die Zigeuner sind die mystischen, bedrohlichen Fremden, von denen du nichts weißt, über die es aber alle möglichen Gerüchte gibt. Über viele Generationen glaubten die Menschen, die Zigeuner seien Kannibalen. Dort, wo ich aufwuchs – in Balteni vor den Toren von Bukarest –, hieß es, wir seien die Nachkommen von Kain und damit zu ewiger Verdammnis verurteilt. Unsere Gadzoe-Nachbarn gaben uns Geld, damit wir uns von ihnen fern hielten.«
    Raskols Blick huschte über die fensterlosen Wände.
    »Mein Vater war Schmied, aber nach Ceausescus Sturz gab es in Rumänien keine Arbeit für Schmiede. Wir mussten auf den Müllplatz am Rand der Stadt ziehen, wo die Kalderas-Zigeuner wohnten. In Albanien war Vater ein bulibas gewesen, ein lokaler Zigeunerführer und Schlichter, doch hier bei den Kalderas war er bloß ein arbeitsloser Schmied.«
    Raskol seufzte tief.
    »Ich werde nie den Ausdruck in seinen Augen vergessen, als er mit einem kleinen braunen, zahmen Bären nach Hause kam, den er an einer Kette hinter sich herzog. Er hatte ihn für sein letztes Geld einer Gruppe Ursarier abgekauft. ›Er kann tanzen‹, sagte Vater. Die Kommunisten bezahlten dafür, tanzende Tiere zu sehen. Sie fühlten sich dann besser. Stefan, mein Bruder, versuchte den Bären zu füttern, doch er wollte nicht essen, und Mutter fragte Vater, ob das Tier vielleicht krank sei. Er antwortete, sie seien den ganzen Weg von Bukarest gelaufen und er brauche nur Ruhe. Der Bär starb vier Tage später.«
    Raskol schloss die Augen und lächelte sein trauriges Lächeln. »Im gleichen Herbst liefen Stefan und ich davon. Zwei Münder weniger zu stopfen. Wir gingen nach Norden.«
    »Wie alt wart ihr?«
    »Ich war acht, er zwölf. Unser Plan war es, nach West-Deutschland zu kommen. Damals nahmen die da Flüchtlinge aus aller Welt auf und gaben ihnen zu essen, das war wohl ihre Art, Reue zu zeigen. Stefan meinte, unsere Chancen, ins Land gelassen zu werden, seien umso besser, je jünger wir waren. Doch an der polnischen Grenze wurden wir gestoppt. Wir gingen dann nach Warschau, wo wir mit unseren Wolldecken unter einer Brücke in der Nähe des eingezäunten Areals Wschodnia am Ostbahnhof übernachteten.
    Wir wussten, dass wir dort einen Schlepper finden konnten – einen Menschenschmuggler. Nach mehreren Tagen Suche trafen wir einen Mann, der Romani sprach und sich Grenzguide nannte. Er versprach, uns nach West-Deutschland zu bringen. Wir hatten kein Geld, ihn zu bezahlen, aber er sagte, er wisse sich schon Rat, denn er würde ein paar Männer kennen, die gut für junge, hübsche Zigeunerjungen bezahlten. Ich begriff nicht, wovon er sprach, doch Stefan schien ihn zu verstehen. Er zog den Guide zur Seite, und die zwei diskutierten lauthals, während der Guide immer wieder auf mich zeigte. Stefan schüttelte wiederholt den Kopf, und schließlich breitete der Guide resignierend die Arme aus und gab es auf. Stefan bat mich zu warten, bis er zurück sei, und verschwand in einem Auto. Ich tat, was er gesagt hatte, doch die Stunden vergingen. Es wurde Nacht und ich legte mich hin. In den ersten beiden Nächten war ich von dem Quietschen der Bremsen aufgewacht, wenn die Güterzüge kamen, doch meine jungen Ohren hatten schnell begriffen, dass es nicht diese Laute waren, vor denen ich mich hüten musste. Also schlief ich ein und wachte erst wieder auf, als ich hörte, wie sich jemand mitten in der Nacht leise näherte. Es war Stefan. Er kroch unter die Decke und presste sich an die nasse Wand. Ich konnte ihn weinen hören, doch ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt, und kniff die Augen zusammen. Und bald hörte ich wieder nur noch die Züge.« Raskol hob den Kopf. »Fahren Sie gern Zug, Spiuni?«
    Harry nickte.
    »Der Guide kam am nächsten Tag zurück. Er brauche mehr Geld. Stefan fuhr

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