Die Fahrt des Leviathan
unangetastet zurückgelassen hatte, hinüber auf seine Seite des Tisches.
5. Dezember
Alvin Healey saß wie auf heißen Kohlen. Um bei Rebekka Heinrichs Gesellschaft eine gute Figur zu machen und insbesondere keinen negativen Eindruck bei Fräulein von Rheine zu hinterlassen, hatte er bei einem Schneider in der Friedrichstraße einen Frack mit zugehöriger Hose in Auftrag gegeben, obwohl sein Budget eine so kostspielige Anschaffung eigentlich nicht gestattete.
An diesem Nachmittag um vier Uhr sollte er zur Anprobe erscheinen. Nun war es schon Viertel vor vier, und noch immer hielt Charles Beaulieu ihn im Büro der Richmond-Handelsgesellschaft fest. Verstohlen blickte Healey vom Schreibtisch aus immer wieder zur Uhr und versuchte, seine mit dem unnachgiebigen Vorrücken des Minutenzeigers anwachsende Unruhe zu kaschieren.
Wieso musste Beaulieu ihn ausgerechnet an diesem Sonnabend mit einem endlosen Katalog detaillierter Anweisungen eindecken? Einen Schiffsliegeplatz sollte er bei den Hafenbehörden anmieten, sämtliche verfügbaren Lastkähne chartern, klafterweise Bauholz erwerben und sich bei den Vermittlungsbüros für Hafenarbeiter erkundigen, wie viele Männer sie kurzfristig zur Verfügung stellen konnten. Wozu das alles?
Diese ganzen Aufgaben erschienen Healey als nutzlose Schikanen, die keinem anderen Zweck dienten, als ihn in einem schlecht sitzenden Frack vor Amalie von Rheine treten zu lassen. Denn schließlich gab es nichts zu verladen. Die Weisungen waren absolut sinnlos, sofern sie nicht gerade zu irgendeinem Täuschungsmanöver gehörten, mit dem die Spione der Nordstaaten in Friedrichsburg verwirrt werden sollten. Aber Healey war auch nicht erbaut von dem Gedanken, wegen einer solchen Charade am Ende mit zu langen Ärmeln und zu kurzen Hosenbeinen dazustehen.
»So viel hierzu«, beendete Beaulieu , der mit den Händen auf dem Rücken im Büro umherging, seine Anordnungen betreffs der Bestellung von Sauerkraut und Zwieback. »Haben Sie das alles?«
Healey, über ein bereits randvoll beschriebenes Blatt Papier gebeugt, schaute auf und legte den Bleistift aus der Hand. »Ja, Sir«, sagte er und erfasste zugleich mit einer schnellen Augenbewegung das Zifferblatt der Wanduhr.
»Gut. Wie steht es mit der Reederei?«, verlangte Beaulieu zu wissen.
Flugs zog Healey einen kleinen Stapel Unterlagen aus der Schublade. »Heute Morgen ging die amtliche Bestätigung ein, Sir. Die Richmond -Handelsgesellschaft ist von nun an auch Eignerin der Victoria-Reederei. Jedoch – falls Sie mir die Frage gestatten –, welchen Nutzen hat eine Reederei ohne Schiffe, Sir?«
»Ich gestatte Ihnen die Frage nicht, Mr. Healey«, beschied ihm Beaulieu . »Beschränken Sie sich auf die Obliegenheiten Ihrer Stellung und die Ausführung meiner Anweisungen. Wobei mir einfällt, dass Sie sich fortan vom Lagerhaus fernzuhalten haben.«
»Sir, ich weiß nicht, ob ich recht verstehe«, entgegnete Healey befremdet. »Ich muss doch regelmäßig das Lagerhaus aufsuchen, um –«
»Ab jetzt nicht mehr«, schnitt Beaulieu ihm brüsk das Wort ab. »Wie viele Schlüssel gibt es?«
»Zwei, Sir.«
»Einen davon händigen Sie mir aus. Den anderen behalten Sie. Tragen Sie ihn stets bei sich, geben Sie ihn nie aus der Hand. Allein der Verleger Mr. Weaver, mit dem ich Sie noch bekannt machen werde, und Oberst Kolowrath dürfen den Schlüssel jederzeit von Ihnen verlangen. Ist das klar?«
»Völlig klar, Sir«, log Healey. In Wahrheit verstand er die Welt nicht mehr. Doch hütete er sich, Fragen zu stellen und damit nur noch mehr kostbare Zeit zu vergeuden. Der Minutenzeiger war der Elf schon bedenklich nahe gekommen.
Beaulieu stellte sich vor die fähnchengespickte Wandkarte und musterte die längst nicht mehr aktuelle Darstellung der Schlachtfelder. »Noch etwas. Ab sofort nehmen Sie in meiner Abwesenheit jegliche Anordnungen, die besagter Mr. Weaver Ihnen erteilt, so entgegen, als wären es meine eigenen.«
Verzieh dich endlich, ich habe Wichtigeres vor!,
dachte Healey und versicherte zugleich: »Ganz wie Sie wünschen, Sir. Alles wird zu Ihrer vollsten Zufriedenheit geschehen.«
»Das will ich meinen«, erwiderte Beaulieu . Er zog eines der roten Fähnchen heraus und machte Anstalten, es an anderer Stelle in die Karte zu stechen.
Dann aber überlegte er es sich anders und platzierte es wieder an seiner alten Position.
»Nun, Mr. Healey, das soll es für heute gewesen sein. Falls sich etwas von Bedeutung ereignet oder sich
Weitere Kostenlose Bücher