Die Fahrt des Leviathan
darüber hinunterschlucken, wie ein Schuljunge belehrt zu werden. Doch er bezwang für dieses Mal seinen Stolz, indem er daran dachte, welcher großen Sache er diente.
Zudem wusste er, dass bald der Tag kommen würde, an dem er die Nigger für alles bezahlen ließ, was er hinnehmen musste. Sehr bald.
* * *
Die Stimmung im Saal von
Freimann’s Gasthof
war aufgeheizt. Zu der Versammlung, deren Thema die gegenwärtige Situation Karolinas war, hatten sich über zweihundert Menschen eingefunden, Schwarze und Weiße, mit sehr unterschiedlichen Ansichten.
Als Erster hatte ein weißer Liberaler gesprochen und mit großer Freimütigkeit die Wurzel allen Übels in der Bindung Karolinas an die von altertümlicher Selbstherrlichkeit erfüllte preußische Monarchie ausgemacht, die sich starrsinnig den bescheidenen Wünschen der Konföderation nach diplomatischer Anerkennung verschloss und damit in zynischer obrigkeitlicher Gleichgültigkeit die Verelendung ihrer Überseeprovinz heraufbeschwor. Nach ihm war ein konservativer Schwarzer vor die Zuhörer getreten, hatte seiner tiefen Empörung über die Äußerungen seines Vorredners Ausdruck verliehen und sodann unbedingte Treue zur Krone eingefordert, der einzigen Garantin der Freiheit und Gleichheit aller Farbigen Karolinas und der Beschützerin vor der Vereinnahmung durch einen übermächtigen Nachbarn, wie immer dessen Name künftig auch lauten möge.
Beide Ansprachen hatten zu gleichen Teilen donnernden Applaus und aufgebrachte Pfiffe geerntet. Rebekka Heinrich hingegen, die neben dem Podest sitzend alles verfolgt hatte, hatte sich jeder Äußerung der Zustimmung oder Ablehnung enthalten. Sie konnte keinen der vorgebrachten extremen Standpunkte gutheißen. Und doch fand sie in beiden Teile ihrer eigenen Überzeugungen wieder.
Nun war die Reihe an ihr. Professor Altländer, der Vorsitzende der
Friedrichsburger Gesellschaft für die Förderung des Gemeinwohls,
tat sein Bestes, um das Publikum zur Ruhe zu ermahnen, was ihm mit seiner leisen Gelehrtenstimme nicht leichtfiel. Doch es gelang ihm schließlich und er konnte als nächste Rednerin die Direktorin der Höheren Töchterschule ankündigen.
Rebekka erhob sich, stieg mit ihrem Manuskript in Händen auf das Podest und trat vor die Menge. Sie war ein wenig nervös. Auch nach wohl gut hundert Auftritten vor Zuhörern überkam sie immer noch leichte Unsicherheit, sobald sie sich den auf sie gerichteten Gesichtern gegenübersah. Doch wusste sie inzwischen aus Erfahrung, dass dieses Gefühl dahinschwand, nachdem sie die ersten Worte gesprochen hatte.
Da sie mittlerweile davon ausgehen konnte, dass ihr Name einem Großteil der Anwesenden ein Begriff war, beschränkte sie sich auf einige einleitende Sätze, um sich vorzustellen. Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf ihr Manuskript, beschloss aber sogleich, sich von ihrem vorbereiteten Text zu lösen. Sie wollte auf die Aussagen ihrer Vorredner eingehen.
»Es ist wahr«, begann sie mit selbstbewusster Stimme, »dass die preußische Monarchie, wie sie gegenwärtig existiert, ein Problem darstellt. Sie ist ein Relikt längst vergangener, finsterer Zeiten.«
»Das ist eine Unverfrorenheit!«, rief jemand aus den hinteren Reihen der Zuhörer.
Unbeirrt und durch diese erste Reaktion sogar noch bestärkt fuhr Rebekka fort: »Gestützt auf die Behauptung des Gottesgnadentums, beseelt von verstaubten und morschen Ideen vom Königtum, maßt sich eine kleine Gruppe an, die Geschicke eines ganzen Landes zu bestimmen. Eine Gruppe, deren reaktionärer Eifer nicht ruhen wird, ehe nicht wieder eine absolutistische Monarchie mit entmündigten Untertanen besteht, sofern sich ihnen niemand in den Weg stellt und ihnen Einhalt gebietet.«
Die Proteste im Saal wurden lauter. Die anwesenden Farbigen machten aus ihrer Empörung keinen Hehl. Rebekka ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihre Standpunkte bezüglich der Verhältnisse in Preußen waren allgemein bekannt; niemand hatte von ihr erwarten dürfen, dass sie sich ausgerechnet an diesem Abend anders äußern würde, um sich anzubiedern.
Die Weißen begannen ihr zu applaudieren. Dankend neigte sie den Kopf; doch sie wusste insgeheim, dass dieser Beifall von Seiten der Liberalen gleich darauf ein abruptes Ende finden würde.
»So gravierend diese Missstände auch sind, dürfen sie uns doch nicht dazu verleiten, in ihnen die Ursache für die herrschende Misere in Karolina zu suchen und die Abkehr von Preußen zu betreiben«,
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