Die Fahrt des Leviathan
stellte sie mit Bestimmtheit fest. »Nicht die Regierung in Berlin ist es, die Not und Elend hier hervorruft. Es sind die abtrünnigen Südstaaten, die durch das Zurückhalten der Baumwolle die Staaten Europas zu erpressen versuchen. Sie wollen die Anerkennung und Unterstützung der Konföderation erzwingen. Weder Preußen noch irgendeine andere Nation darf dieser Erpressung nachgeben und dadurch das Sklavenhalterregime stärken.«
Wie Rebekka vorausgesehen hatte, war die Zustimmung der Weißen schnell verschwunden. Einer von ihnen, ein unauffälliger Mann in karierten Hosen, sprang voller Ärger von seinem Stuhl in der vordersten Reihe auf und reckte die Hand mit einem stechend ausgestreckten Zeigefinger in Richtung der Direktorin: »Das also ist Ihr eigentlicher Beweggrund! Die Sorge um die Neger in den Südstaaten! Wie es den Menschen hier ergeht, ist Ihnen gleichgültig, Sie kümmern sich nur um Ihresgleichen!«
Den Zwischenruf ebenso ignorierend wie die anwachsende Unruhe im Saal, fuhr Rebekka entschlossen fort: »Bei allen Fehlern, die der preußische Staat momentan aufweisen mag – Karolina ist eine Insel der Freiheit in einem Ozean der Sklaverei. Schon alleine dafür hassen uns die Sklavenhalter des Südens. Darum darf Preußen auch nichts zu einem Sieg des Südens beitragen, damit diese Insel nicht als Nächstes von den Wellen verschlungen wird.«
»Wie viele Ihrer Rassebrüder von drüben haben Sie denn schon zur Flucht verleitet und auf diese überfüllte Insel geholt, damit sie uns die Haare vom Kopf fressen?«, rief der Weiße mit den karierten Hosen aufgebracht.
Rebekka fixierte ihn vom Podest herab mit einem Blick, der ihm bedeuten sollte, dass sie sich nicht durch seine Polemik provozieren lassen würde, die Konfrontation mit ihm aber auch nicht scheute. »Zu wenige«, entgegnete sie scharf, doch beherrscht. »Aber ich werde mich bemühen, dass es mehr werden. Ebenso, wie ich mich bemühen werde, jeglichen Bemühungen einer Loslösung Karolinas von Preußen sowie einer von politischer Naivität und Vorteilsdenken bestimmten Hinwendung nach Amerika mit aller Kraft entgegenzutreten.«
»Neger wie du treiben uns alle ins Verrecken!«, schrie der Mann mit sich überschlagender Stimme.
Alles ging unglaublich schnell. Und dennoch nahm Rebekka es wahr, als würde es zäh und gebremst vor ihren Augen ablaufen. Der Weiße zog etwas aus der Tasche seines Rocks, es glänzte metallisch in seiner Hand.
Ein Messer!,
schoss es durch Rebekkas Hirn.
Er will mich töten!
Der Mann sprang mit hassverzerrtem Gesicht auf das Podest, das Messer in der erhobenen Faust, um sich auf die Schuldirektorin zu stürzen. Instinktiv wich Rebekka zur Seite aus, ließ den Attentäter ins Leere laufen, auf die Wand zu. Sein Arm wollte zustechen, doch die Klinge durchschnitt nur Luft und bohrte sich in die Stoffbespannung.
Rebekka starrte in Todesangst auf den Angreifer, der herumfuhr, sie mit einem wilden Blick durchbohrte und mit dem Messer zu einem weiteren Stoß ausholte, vor dem es kein Entkommen mehr gab. Sie spürte bereits den Stahl in ihr Fleisch dringen.
Doch es geschah nicht. Der Attentäter brach zusammen, niedergestreckt von einem Bierkrug, der auf seinem Schädel in Scherben ging. Ein junger Mann aus dem Publikum hatte schnell genug reagiert und war auf das Rednerpodest gesprungen, um den Gemeingefährlichen unschädlich zu machen. Es war ihm gelungen.
Rebekka ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sacken, während um sie herum der starre Schrecken über den unglaublichen Vorfall aufgeregtem Durcheinander wich. Ihr Herz klopfte, als wollte es platzen. Benommen schaute sie auf den stöhnend mit dem Gesicht nach unten vor ihr liegenden Fremden, dem Blut aus einer klaffenden Wunde zwischen den Haaren rann.
Und sie erkannte, dass die Dinge schon weit schlimmer standen, als sie geglaubt hatte.
* * *
So weit Pfeyfer blicken konnte, erstreckte sich um ihn die grasbewachsene Ebene. Und obwohl die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel stand und die Hitze den Horizont in einem unsteten Flimmern zerfließen ließ, schwitzte er nicht im Geringsten in seiner hochgeschlossenen Uniform. Selbst die schwere Pickelhaube drückte ihn nicht, sondern war fast unfühlbar leicht. Nichts, aber auch gar nichts belastete ihn. Er stand nur dort und sah in die Ferne, erfüllt von einem Gefühl absoluter Ruhe.
Dann spürte er etwas. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte leicht. Das anfangs kaum wahrnehmbare Zittern der Erde wurde
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