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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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stärker. Es nahm einen festen, präzisen Takt an, den Pfeyfer sofort erkannte: fünfundsiebzig Schritt in der Minute, der Parademarschtritt der preußischen Infanterie.
    Es näherte sich. Pfeyfer wusste es einfach. Erwartungsvoll schaute er in alle Richtungen, bis er plötzlich etwas ausmachte. In der Ferne kam Bewegung in die träge flirrende Luft. Ein dunkler Streifen erschien, der von einem Ende der Ebene zum anderen reichte. Und als das gleichmäßige Stampfen unzähliger Stiefel anschwoll, verwandelte sich die anfangs noch gestaltlose Linie langsam. Aus dem unbeständigen Schleier bewegter Sommerluft traten lange Reihen preußischer Soldaten aus allen Zeiten. Musketiere des Großen Kurfürsten mit federgeschmückten breiten Hüten nahmen Gestalt an. Friderizianische Grenadiere, deren Mützen mit den hohen Messingschilden im Sonnenlicht glänzten. Die in grüne Monturen gekleideten Männer vom Mohren-Regiment der Karolinischen Jäger des Prinzen Heinrich, in deren dunklen Gesichtern der Stolz über die selbst erkämpfte Freiheit stand. Füsiliere der Befreiungskriege mit hohen Ledertschakos, Infanterie mit schimmernd polierten Pickelhauben. Sie alle marschierten unter flatternden Fahnen, auf denen furchtlose schwarze Adler mit wehrhaft vorgereckten Schnäbeln emporflogen. Prasselndes Trommeldröhnen und das schrille Tirilieren von Querflöten erfüllte die Luft.
    Das Schauspiel ließ Pfeyfer das Herz aufgehen. Nie zuvor hatte er etwas so Herrliches gesehen. In ihm wuchs das Verlangen, sich bei den stetig näher kommenden Soldaten einzureihen, mit ihnen zu marschieren, als Teil der unvergänglichen Glorie in ihnen aufzugehen.
    Da aber, als die vorderste Reihe kaum noch fünfzig Schritt entfernt war, blieben die Männer schlagartig stehen. Die Musik verstummte, die Regimentsfahnen hingen bewegungslos an ihren Stöcken. Nichts regte sich mehr.
    Erstaunt und unschlüssig ließ Pfeyfer seine Blicke an der endlosen Linie angetretener Soldaten entlangwandern. Er wollte, er musste zu ihnen. Doch bei wem sollte er sich zum Dienst melden?
    Plötzlich sah er wenige Fuß von sich entfernt einen Mann stehen, der ihm den Rücken zukehrte. Trotz des abgewandten Gesichts begriff Pfeyfer sofort, wer dort die angetretenen Truppen inspizierte. Unverkennbar war die gebückte Gestalt im blauen Uniformrock, mit dem großen schwarzen Dreispitz und dem langen, stramm gebundenen Zopf, die dort auf einen Krückstock gestützt stand. Bei niemand anderem als dem großen Friedrich selbst würde Pfeyfer um seine Aufnahme in die Reihen der Unsterblichen ersuchen!
    Der Major trat näher. Die Aufregung zerriss ihn innerlich beinahe. Doch zugleich durchströmte ihn ein erhebendes Glücksgefühl.
    Mit einem Mal drehte sich der König herum. Und Pfeyfer blickte in Friedrich Heinzes bleiches Antlitz.
    »Wann findest du meinen Mörder, Willi?«, fragte er vorwurfsvoll mit modrig hohler Stimme und fixierte den Major aus erstarrten Augen.
    Pfeyfer schrie entsetzt auf. Er wich in Panik zurück, strauchelte, taumelte, stürzte, fiel. Er fiel immer weiter, in die Tiefe, in kalte Finsternis.
     
    Sein eigener Schrei riss ihn aus dem Schlaf. Er fuhr ruckartig auf und stieß die Arme vor, als wollte er einen Aufprall abfangen.
    Seine Sinne verweigerten ihm zunächst den Dienst, so als wäre sein Geist zum Teil noch in der Traumwelt gefangen und sträubte sich gegen die Rückkehr. Nach und nach jedoch wurde ihm klar, dass er nicht in die Leere stürzte. Er saß in seinem Bett, schwer atmend und schweißbedeckt. Durch das Fenster fiel der ruhige fahlsilbrige Schein der Mondsichel in das Schlafzimmer. Irgendwo weit entfernt in der Nacht sang ein Betrunkener aus vollem Halse und falsch.
    Matt ließ Pfeyfer sich in die Kissen zurücksacken. So ging es nicht weiter. Er würde gleich am folgenden Mittag Doktor Täubrich aufsuchen. Was immer der Arzt ihm auch riet, er wollte es tun. Wenn er nur endlich wieder Schlaf fand.

9. Dezember
    Exakt mit dem Glockenschlag betrat Pfeyfer sein Dienstzimmer im Korpskommando und schreckte seinen Stellvertreter auf. Hauptmann FliegenderSchwarzer-Adler war ganz in die Lektüre einer Zeitschrift vertieft gewesen und sprang nun hektisch auf, um Haltung anzunehmen.
    »Wenn Sie unbedingt lesen müssen, dann tun Sie das außerhalb des Dienstes!«, tadelte Pfeyfer ihn scharf. Normalerweise hätte er ihn noch viel deutlicher an seine Pflichten erinnert, doch er war nach der strapaziösen letzten Nacht noch zu erschöpft, um sich mit

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