Die Fahrt des Leviathan
überprüfen, ob er nicht vielleicht wahllos etwas an sich genommen hat, bevor er sich davonmachte.«
Prüfend ließ Rebekka den Blick durch das Arbeitszimmer schweifen, über die mit Büchern gefüllten Regale, die Vitrine mit Hundefigurinen aus Meißner Porzellan und den Schreibtisch. An keiner Stelle herrschte Unordnung, die auf eine gehetzte Suche nach dem erstbesten Wertgegenstand hingedeutet hätte. Der verhinderte Dieb hatte allem Anschein nach so schnell wieder Reißaus genommen, dass ihm keine Gelegenheit blieb, etwas zu stehlen. Wie überstürzt er flüchtete, ließ sich daran erkennen, dass er dabei recht ungestüm mit dem Fuß gegen den Topf des nahe der Glastür auf dem Boden stehenden Gummibaums gestoßen sein musste. Einige auf dem Parkett verteilte Klumpen schwarzer Blumenerde waren die stummen Zeugen dieses vermutlich schmerzhaften Missgeschicks.
»Nein«, sagte Rebekka schließlich, »es scheint mir nichts zu – oh, halt! Sehen Sie doch, der Schlüssel ist fort!«
Sie hatte recht. Healeys Brieftasche und Schlüsselbund lagen nach wie vor an ihrem Platz, doch der verschnörkelt dekorierte große Schlüssel zum Lagerhaus war verschwunden.
Diese Entdeckung befremdete Pfeyfer und die beiden Frauen gleichermaßen. Alle drei waren sich einig darüber, dass der Einbrecher ein ausgesprochen unfähiger Vertreter seiner Zunft sein musste. Wie sonst ließ sich erklären, dass er auf gut Glück einen Schlüssel gestohlen hatte, der für ihn völlig wertlos war, da er ja noch nicht einmal wissen konnte, zu welcher Tür er gehörte? Von diesem absolut inkompetenten Dieb, stellte Amalie geringschätzig fest, ging mit Sicherheit keine Gefahr aus.
»Trotzdem werde ich, falls Sie es wünschen, einen Mann abstellen, der heute Nacht im Garten Wache hält«, bot Pfeyfer an.
Rebekka lehnte den Vorschlag freundlich aber entschlossen ab: »Das ist sehr aufmerksam, und ich weiß Ihre Sorge um mein Wohlergehen zu würdigen. Doch ich darf Ihnen versichern, dass ich kein verängstigtes Gänschen bin. Meinetwegen soll sich kein bedauernswerter Soldat im Dunkeln die Beine in den Bauch stehen müssen.«
»Ich bin gleichfalls nicht so furchtsam, dass ich ohne Leibwache vor der Tür kein Auge zutun würde«, pflichtete Amalie von Rheine bei.
»Nun gut, ganz wie Sie wünschen«, beugte der Major sich der Entscheidung der Frauen, wenn ihm dabei auch nicht wohl war. »Ihre Kaltblütigkeit, Fräulein Heinrich, ist erstaunlich. Doch ich insistiere, dass Sie mich ohne Zögern benachrichtigen, wenn etwas vorfällt, was Ihnen auch nur den leisesten Anlass zur Besorgnis gibt.«
»Das werde ich, Herr Major. Und ich werde mich bei Ihnen melden, wenn ich meine nächste Rede vorbereite. Ich verspreche es Ihnen.«
Damit gab Pfeyfer sich zufrieden. Mit einer Verbeugung verabschiedete er sich von Amalie und verließ sodann in Rebekkas Begleitung das Arbeitszimmer, um sich von der Direktorin zur Tür bringen zu lassen.
Amalie blieb zurück, betrachtete die eingeschlagene Glasscheibe und fragte sich, ob sich der so unbegabte Einbrecher am Ende vielleicht auch noch geschnitten hatte. Dann ging sie in die Hocke, um die Erdklumpen aufzusammeln. Sie hob die dunklen Brocken vom Boden auf und legte sie zurück in den Topf.
Dabei bemerkte sie etwas, was ihr merkwürdig vorkam.
Nachdem Rebekka dem Major an der Haustür nochmals zugesichert hatte, sich völlig sicher zu fühlen und keiner Bewachung zu bedürfen, hatte sie ihn mit einigen höflichen Abschiedsworten in die Nacht entlassen. Nun endlich konnte sie in das Arbeitszimmer zurückeilen.
Als sie in den Raum trat, war Amalie nicht mehr dort. Das kam der Direktorin zupass, denn so konnte sie unverzüglich ans Werk gehen. Sie beugte sich über den Topf des Gummibaums und steckte tastend die Finger in die feuchte Erde. Als sie nicht sofort fand, was sie erwartete, wurden ihre Handbewegungen hektischer.
»Ist es das, was Sie suchen?«, hörte sie plötzlich Amalies Stimme hinter sich.
Sie fuhr herum und sah die Lehrerin in der Tür stehen. In der Hand hielt Amalie den von Blumenerde verdreckten großen Schlüssel.
* * *
Pfeyfer konnte nicht einschlafen. Eigentlich war er todmüde, doch kurz nach dem Zubettgehen war ihm etwas in den Sinn gekommen, was ihm keine Ruhe ließ. Nun kreisten seine Gedanken unentwegt um diese eine Sache und hielten ihn wach.
Was, wenn der Einbrecher gar kein unfähiger Amateur war?,
fragte er sich immer wieder. Je länger er darüber nachsann, desto
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