Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
seltsamer erschien es ihm, dass der Eindringling ausgerechnet den Schlüssel entwendet hatte.
    Vielleicht wusste er ganz genau, was er tat,
überlegte Pfeyfer, während er ins Dunkel starrte.
Es könnte sein, dass dieser Unbekannte am offenen Flurfenster gelauscht hat. Dann hörte er nicht nur, wie ich sagte, dass es sich um den Schlüssel zum Lagerhaus handelt. Er konnte auch beobachten, wohin Fräulein Heinrich ihn legte. Und als sich eine Gelegenheit bot, verschaffte er sich Zutritt zum Arbeitszimmer, mit einem ganz klaren Ziel vor Augen.
    Vorstellbar war dieser Ablauf der Ereignisse. Doch eines wollte Pfeyfer bei allem Nachdenken nicht einleuchten. Weshalb sollte überhaupt jemand ins Lagerhaus der Richmond-Handelsgesellschaft gelangen wollen, wo es dort doch bekanntermaßen nichts von Wert gab? Das war der Stolperstein, der die gesamten Überlegungen ins Leere laufen ließ.
    Am liebsten wollte Pfeyfer die nutzlose Theorie einfach verwerfen und endlich schlafen. Aber es gelang ihm nicht. Hartnäckig zwang sein Gehirn ihn, wach zu bleiben und weiterzugrübeln.
    Ich blinder Trottel!
    Urplötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich grob irrte. Das Lagerhaus mochte normalerweise wirklich nichts Wertvolles enthalten. Aber erst am Vortag waren dort ja unerwartet hundertachtundneunzig Ballen Baumwolle aus Georgia eingetroffen, eine Lieferung, die für einige Gerüchte in Friedrichsburg gesorgt hatte.
    Und irgendwo in der Stadt gab es jemanden, der alle erreichbare Baumwolle aus den Südstaaten in Brand steckte. Dieser Jemand hätte einen überaus guten Grund gehabt, Healey am vorigen Abend zu beschatten und den Schlüssel in seinen Besitz zu bringen, als sich eine Chance auftat.
    Pfeyfer schlug die Daunendecke zurück und sprang aus dem Bett. Vielleicht lag er falsch. Wenn er aber mit seiner Vermutung richtig lag, dann würde der geheimnisvolle Brandstifter sicher nicht lange warten und noch in dieser Nacht zuschlagen. Mit ein wenig Glück konnte er nun endlich das ungreifbare Feuerphantom dingfest machen, das ihm schon so lange Ärger bereitete.
     
    Stille lag über dem Alten Hafen. Kaum ein Laut drang an Pfeyfers Ohren. Nur das flach hallende Geräusch seiner Schritte auf dem buckligen Straßenpflaster vermengte sich mit dem leisen Klang von Wellen, die auf der abgewandten Seite der Speicher und Güterschuppen träge gegen die Quaimauern schwappten. Die Tide des Atlantischen Ozeans zwang dem Cooper-Fluss ihren Willen auf und setzte sein brackiges Wasser in Bewegung, immerzu und ohne jemals ihren Griff zu lockern.
    Das Lagerhaus der Richmond-Handelsgesellschaft befand sich hinter der nächsten Biegung, und der Major war erleichtert, noch immer keinen rötlichen Schein am Nachthimmel zu erblicken. Zwar glaubte er nicht, dass hier die Gefahr einer Feuersbrunst bestand; das Lagerhaus stand ja separat, seitdem man zwei Jahre zuvor die aufgegebenen Gebäude zu beiden Seiten abgerissen hatte. Ein Brand konnte sich somit nicht ausbreiten, und die Windstille hätte auch verhindert, dass durch die Luft wirbelnde Funken weiter entfernt stehende Häuser entzündeten. Aber auflodernde Flammen hätten bedeutet, dass der Feuerteufel sein Werk schon vollbracht hatte und erneut entkommen war. Darin bestand Pfeyfers eigentliche Sorge. Vorerst allerdings deutete alles darauf hin, dass der mysteriöse Brandstifter erst noch in Aktion treten würde.
    Oder ich liege schlichtweg absolut verkehrt mit meinen Folgerungen,
zog Pfeyfer als Alternative in Betracht. Er wusste darum, auf wie schwachen Füßen seine Vermutungen standen, und übte sich in einer realistischen Betrachtung der Dinge, um gegen eine Enttäuschung gewappnet zu sein.
    Pfeyfer trat um die Straßenecke. Vor ihm stand das Lagerhaus, dunkel und in ungestörter Ruhe. Niemand trieb dort sein Unwesen.
    Oder doch?
    Hinter den hochgelegenen staubmatten Fenstern vermeinte der Major unvermutet einen tänzelnden Widerschein auszumachen. Aufmerksam geworden, sah er genauer hin. Tatsächlich glomm im Inneren des Gebäudes ein schwaches Licht, vielleicht von einer einzelnen Lampe. Auf jeden Fall befand sich jemand dort. Jemand, der guten Grund hatte, nicht die auffallend helle Gasbeleuchtung zu benutzen.
    Mit vorsichtig leisen Schritten näherte Major Pfeyfer sich dem Tor. Die eingelassene Schlupftür war nur angelehnt. Wer immer sich innen zu schaffen machte, wollte rasch und ungehindert wieder ins Freie gelangen können.
    Ganz langsam zog er den Degen aus der Scheide, um bloß keinen Laut

Weitere Kostenlose Bücher