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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Überwindung abverlangte, den nächsten Satz auszusprechen. Er räusperte sich, um den kurzen Moment der Unentschlossenheit zu überdecken und verkündete: »Von nun an werde ich vorsichtig mit dem sein, was ich Krüger wissen lasse. Sehr, sehr vorsichtig.«

12. Dezember
    Seine Beine gehorchten ihm kaum. Die Füße schienen ihm schwer wie Felsbrocken, die Knie so weich und schwach, als wollten sie einfach unter ihm einknicken. Bob ging nicht, er wankte vorwärts. Noch immer schnürte ihm Beklommenheit die Kehle zu und wirbelten Gedanken in seinem Kopf, schreckliche Erinnerungen, aufgewühlt durch wenige Sekunden nackter Angst.
    Endlich erreichte er sein Ziel, die kleine Destille im Eckhaus hinter dem Güterbahnhof. Viele Eisenbahner kamen hierher, um nach dem Ende des Dienstes ihren Feierabend mit einem Glas Bier zu beginnen. Bob war dort nur selten Gast, zu sehr achtete er darauf, sein Geld zusammenzuhalten. Heute aber war das anders. Er brauchte etwas Starkes, und er brauchte es schnell.
    Die Wirtin räumte gerade leere Bierkrüge von dem im Freien aufgestellten Tisch, als Bob hinzukam. Er ließ sich auf die rohe Holzbank sacken und ächzte entkräftet: »Einen Glas Schnapsen.«
    In den hinter ihm liegenden Wochen hatte er jede freie Minute darauf verwendet, seine neue Muttersprache zu erlernen, und sich ein recht gutes Deutsch zu eigen gemacht. Dass ihm nun die Worte so falsch aus dem Mund kamen und er nichts dagegen unternehmen konnte, beschämte ihn. Sein heutiges Erlebnis hatte ihm dergestalt zugesetzt, dass er die Folgen nicht allein am Körper spürte. Sein Hirn war in Aufruhr, seine Seele kauerte zitternd in einer dunklen Ecke, verängstigt wie ein kleines Kind.
    Ungerührt bestätigte die Wirtin, die schon Männer in jedem Zustand erlebt hatte, die Bestellung mit einem Nicken und verschwand im Haus. Bob stützte den Kopf in die Hände und stöhnte gepeinigt.
    Wieder war heute Charles Beaulieu im Bahnhof erschienen, wieder hatte Bob sich verborgen und Stoßgebete zum Allmächtigen gesandt, dass dieser Weiße ihn nicht bemerkte, nicht erkannte. Wie oft war er nun schon abgereist und angekommen? Jede Ankunft bedeutete für Bob die Hölle auf Erden. Nicht nur, weil er auf dem Bahnsteig vor den todverheißenden Blicken Beaulieu s flüchten musste. Nein, viel grauenvoller war, dass er diesen Mann dann in Friedrichsburg wusste. Bei jedem Schritt in den Straßen der Stadt musste er damit rechnen, unvermittelt Beaulieu von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Nach jedem Eintreffen des Südstaatlers traute sich Bob nur noch unter Angstschweiß und erstickender Furcht aus der Sicherheit seiner Schlafkammer ins Freie.
    Heute war Beaulieu in den Zug nach Savannah gestiegen. Doch er würde zurückkommen. Und dann begann der Schrecken erneut. Es gab kein Entrinnen.
    Die Wirtin kam herbei und wollte ein Glas mit Schnaps auf den Tisch stellen. Bob nahm es ihr aus der Hand und stürzte es in einem Schluck hinunter.

Savannah, Georgia
    Einem gigantischen Fisch ähnlich lag Hutchinson Island langgestreckt im Savannah River, dem Grenzfluss, der Karolina von Georgia trennte. Gleich zwei Eisenbahnbrücken verbanden die Insel mit dem Festland. Die nördliche, eine kühne und doch zugleich mit jeder Niete emotionslosen Pragmatismus verkündende Konstruktion aus Eisenfachwerk, war von der Karolinischen Südbahn errichtet worden und führte vom preußischen Ufer über die unsichtbar im schlammig grün dahinfließenden Strom verlaufende Grenzlinie. Ihr Gegenstück, im Auftrag der Savannah, Albany & Gulf Railroad ganz aus Holz errichtet und kaum weniger eindrucksvoll, verband die Stadt Savannah, die sich an der Südseite des Flusses ausbreitete, mit dem Stück Land inmitten des sich schwer und müde gebenden Stroms. Auf Hutchinson Island, das reichlich Platz bot, hatten beide Bahngesellschaften einen gemeinsamen Grenzbahnhof errichtet, mit großzügig bemessenen Anlagen für das Umladen großer Mengen Baumwolle, die zur Verarbeitung in karolinischen Fabriken vorgesehen war. Und tatsächlich hatten in den zehn Jahren nach der Einweihung des Bahnhofs Abertausende Ballen Hutchinson Island passiert. Aber seit der Sezession der Südstaaten und dem Beschluss der konföderierten Regierung, keine Baumwolle mehr auszuführen, war Stille eingekehrt. Nur gelegentlich noch wurden vergleichsweise geringfügige Ladungen Tabak oder Hanf von den Güterwagen der Savannah, Albany & Gulf Railroad auf preußische Züge umgeladen.
    Dass die Insel in

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