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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Kleidung zurecht und deutete mit der Stockspitze in Richtung des Bahnhofs. »Gehen wir, General. Ich will nicht wegen einer Bagatelle meinen Zug versäumen.«
     
    * * *
     
    Umsichtig einen Fuß vor den anderen setzend suchte Bob seinen Weg. Immer wieder schoben sich schwarze Wolken vor den Mond, verschluckten das fahlsilbrige Licht und tauchten die Welt um ihn in Dunkelheit. Bob wollte nicht zu allem Überfluss auch noch stolpern und in den Dreck stürzen.
    Eigentlich hätte er schon längst schlafen sollen, denn sein Dienst begann früh am nächsten Morgen. Aber sein Kopf brummte vom Schnaps. Von der frischen Nachtluft erhoffte er sich ein wenig Linderung. Behutsam folgte er dem Trampelpfad, der sich an den Abstellgleisen des Bahnhofs entlangzog. Kein Klirren von Kupplungsketten war zu vernehmen, kein Schnauben anfahrender Lokomotiven, keine Rufe von Rangierern. Die Geräusche des Tages waren verstummt, verdrängt von der ewigkeitsschweren Stille der Nacht.
    Bob atmete tief durch. Sein Kopfweh legte sich langsam. Und auch die Angst vor Charles Beaulieu , die ihn den ganzen Tag verfolgt hatte, verlor in der Atmosphäre nächtlicher Geborgenheit ihre Kraft. Sein Herz wurde von Sekunde zu Sekunde leichter.
    Er beschloss, bis zum Bahnhof zu gehen und seinem Freund Ralph Moses einen kurzen Besuch abzustatten. Sicher würde etwas Abwechslung die ereignislose Nachtschicht im Telegraphenbüro erträglicher machen. Außerdem hatten sich die beiden Männer immer viel zu erzählen, war Moses doch bis vor drei Jahren gleichfalls Sklave auf einer Plantage in Georgia gewesen und durch eine tollkühne, viele Wochen dauernde Flucht nach Preußen gelangt.
    Gemächlich und mit sicherer werdenden Schritten folgte Bob immer weiter dem schmalen Weg. Seine Gedanken schweiften ab. Er fragte sich, wie viel Wahres Ralph Moses’ abenteuerliche Geschichten wohl enthalten mochten. Doch ganz gleich, ob sein Freund manchmal der Phantasie die Zügel schießen ließ, zu erzählen verstand er prächtig. In einem reichlich ausgestopften Kleid als Kindermädchen maskiert wollte er einen Suchtrupp zum Narren gehalten haben, und das so überzeugend, dass er sich der Zudringlichkeiten eines daherkommenden Sklaven erwehren musste. Bob grinste in sich hinein, als er sich die Szene ausmalte.
    Und dann plötzlich glaubte er etwas zu hören. Ein schwaches Stöhnen, ein leises Wimmern, das nur für einen Augenblick von irgendwoher an seine Ohren drang. Er blieb stehen und lauschte in die Nacht.
    Zunächst vernahm er nichts. Schon meinte er sich getäuscht zu haben und wollte weitergehen. Doch da setzte das Stöhnen erneut ein. Es kam von den Bahngleisen, von einem der abgestellten Züge. Vielleicht war es ein Tier, ein streunender Hund, den eine Lokomotive erfasst hatte und der jetzt qualvoll verendete. Doch diese Erklärung verwarf Bob sogleich wieder. Er wusste, wie ein von schrecklichen Schmerzen gemarterter Mensch am Ende seiner Kräfte klang.
    Kurzentschlossen verließ er den Weg und ging quer über die Gleise. Er folgte den Lauten bis zu ihrem Ursprung, einer Reihe offener Güterwagen. Er hatte den Zug schon fast erreicht, als der Mond für einen Moment hinter Wolken verschwand. Die unerwartet hereinbrechende Finsternis ließ Bob über eine Schiene straucheln. Er fiel, konnte aber die Arme noch nach vorne reißen und sich abfangen. Die spitzen Schottersteine bohrten sich in seine Handflächen und malträtierten durch den festen Stoff seiner Hose die Knie. Unter Flüchen rappelte er sich wieder auf.
    Das Licht des Mondes kehrte zurück. Bob erreichte den Zug; das Stöhnen war nun ganz nah. Ein rascher Blick auf die Kreideaufschrift an der Seitenwand eines der Waggons verriet ihm, dass der Zug am späten Abend unbeladen vom Grenzbahnhof Hutchinson Island zurückgekehrt war. Aber das interessierte ihn nicht.
    Schnell hatte er den Wagen ausfindig gemacht, aus dem das Stöhnen kam. Bob stieg auf das Trittbrett, das neben den Puffern angebracht war, und blickte über die halbhohe Stirnwand auf die Ladefläche.
    Zwischen Strohresten lag auf dem nackten Boden aus narbigen Holzbohlen eine zusammengekrümmte Gestalt. Ein Schwarzer, dessen Hemd zerfetzt und blutdurchtränkt war. Quer über seinen nackten Rücken zog sich eine klaffende lange Wunde, gab den Blick auf das aufgeschlitzte rohe Fleisch und den weiß hervorblitzenden Knochen der Wirbelsäule frei.
    Bob erschrak. Nichts hätte ihn auf diesen grauenvollen Anblick vorbereiten können. Instinktiv

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