Die Fahrt des Leviathan
entwürdigenden Auftreten am vorigen Abend nie wieder in Amalie von Rheines Nähe trauen zu dürfen. Aber dann waren sie und die Schuldirektorin unvermutet bei ihm erschienen, hatten sich sehr einfühlsam nach seinem Befinden erkundigt und ihn zum nachmittäglichen Kaffee am kommenden Wochenende eingeladen. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung empfanden sie offenbar eine gewisse Sympathie für ihn, vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen seines völligen Versagens. Nachdem sie sich wieder verabschiedet hatten, um sich wegen irgendwelcher Unterredungen zu Major Pfeyfer zu begeben, war Healey zunächst etwas desorientiert zurückgeblieben.
Mittlerweile aber hatte er begriffen, dass ihm das Schicksal eine Chance gewährte. Er würde sich in Fräulein Amalies Nähe aufhalten können, und das von nun an wohl mit einiger Regelmäßigkeit. Er würde gesellig sein müssen, sich amüsant und unterhaltsam geben; wie schwer ihm das fallen würde, ahnte er bereits. Doch er wollte sich Mühe geben, Amalie von Rheine nicht zu enttäuschen.
Healey hob erneut das Glas an und ließ dabei versehentlich einige Tropfen auf das Schreiben von General FliegenderSchwarzer-Adler schwappen. Die Tinte zerfloss mit dem Wasser, das sich im Papier ausbreitete. Das Missgeschick nötigte Healey nur ein kurzes Seufzen ab; von der ungerechtfertigten Durchsuchung des Lagerhauses, für die sich der General in dem Brief entschuldigte, hatte er sowieso nichts mitbekommen. Und sie interessierte ihn auch nicht.
Vor dem Fenster polterte eine schwer beladene Bierkutsche die Straße entlang, begleitet von den gellenden Hufschlägen sechs mächtiger Brauereipferde. Healey biss die Zähne zusammen.
* * *
Es dämmerte schon, als Rebekka Heinrich und Amalie von Rheine in der Breitestraße eintrafen. Der Lampenanzünder absolvierte gerade seine abendliche Runde, ging von einer Straßenlaterne zur nächsten und betätigte mit einer langen Stange die Gasbrenner. Ruhiges gelbliches Licht erhellte den Weg, den er bereits zurückgelegt hatte.
Rebekka brachte ihren Einspänner vor dem Haus gegenüber der Ecke zur Oranienstraße zum Stehen, einem ansehnlichen zweistöckigen Gebäude, dessen Veranda und Balkon aus filigranem Schmiedeeisen gearbeitet waren. Eine geschwungene Treppe führte zu zwei Seiten vom Trottoir hinauf zur erhöht gelegenen, von ionischen Pilastern flankierten Eingangstür.
»Ich hätte nicht gedacht, dass der Major so feudal wohnt. Das scheint mir so gar nicht zu ihm zu passen«, wunderte Amalie sich, während sie von der Kutsche hinabstieg.
Rebekka saß ebenfalls ab und band die Zügel des Pferdes an einen Laternenpfahl. In diesem äußerst respektablen Teil der Stadt war nicht damit zu rechnen, dass Diebe eine unbeaufsichtigte Kutsche entwendeten.
»Eines der ältesten Häuser Friedrichsburgs, noch aus der englischen Kolonialzeit. Und eines der wenigen, die den großen Brand von 1814 unversehrt überstanden haben«, erklärte die Direktorin, während sie die Riemen verknotete. »Ich habe einmal gehört, Prinz Heinrich persönlich hätte es Pfeyfers Großvater geschenkt. Vielleicht fühlt er sich deswegen verpflichtet, hier zu leben. Das würde dann wiederum ganz seinem Wesen entsprechen.«
Rebekka vergewisserte sich, dass der Knoten nicht zu locker war. Dann schritt sie mit Amalie die Treppe hinauf.
Der Salon wurde nur von zwei Petroleumlampen sparsam erhellt. Gasleuchten konnte Amalie nirgendwo ausmachen, wie überhaupt der gesamte Raum wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkte. Die mit elegant verästeltem Rankenwerk bedruckten Seidentapeten, mit denen die Wände bespannt waren, die schnörkelreichen Möbel und die sich mit neckischer Leichtigkeit kräuselnden Stuckverzierungen an der Decke erschienen ihr wie ein geisterhaft konserviertes Fragment des achtzehnten Jahrhunderts. Über dem Kamin hing das Porträt eines schwarzen Paares, eines Mannes in blauem friderizianischem Offiziersrock und mit einer gepuderten, in seitliche Locken gelegten Perücke und einer dicht neben ihm stehenden Frau in einem champagnerfarbenen Rokoko-Kleid mit eng geschnürter Taille und tiefem, spitzengesäumtem Dekolleté, das mäßig hoch aufgetürmte Haar gleichfalls weiß gepudert. Die Unbeholfenheit des Malers ließ ihre Gesichter leer und ausdruckslos erscheinen. Dennoch konnte Amalie klar erkennen, dass sich Züge von beiden in Wilhelm Pfeyfer vereinten.
Die Frauen hatten in Sesseln Platz genommen, der Major zog es vor zu stehen,
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